VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 21.11.2018 - 7a L 1947/18.A - Asylmagazin 1-2/2019, S. 40 ff. - asyl.net: M26928
https://www.asyl.net/rsdb/M26928
Leitsatz:

Keine Gefahr mehr wegen nachträglicher Zusicherung (Fall Sami A.):

1. Eine nachträglich nach Abschiebung durch den Zielstaat getätigte individuelle Zusicherung kann die Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung als deutlich gemindert erscheinen lassen. Daher ist dem Antrag der Ausländerbehörde nach § 80 Abs. 7 VwGO auf Abänderung des Eilrechtsbeschlusses gegen den Widerruf des Abschiebungsverbots stattzugeben.

2. Zusicherungen können die Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK ausräumen, wenn sie in der Praxis eine ausreichende Garantie für den Schutz der betroffenen Person bieten. Dabei ist im Einzelfall zu prüfen, ob Zusicherungen eines Staates generell Gewicht haben und ob sie in der Praxis verlässlich sind. Zudem sind die Verhältnisse im Zielstaat, der konkrete Inhalt der Zusicherung und die Umstände der Abgabe zu berücksichtigen.

3. Im Einzelfall kann auch die herausgehobene Stellung der betroffenen Person (wegen ihrer Bekanntheit, politischer Brisanz, medialem Interesse) für die Einhaltung der Zusicherung sprechen, sowie auch ein intensiver zwischenstaatlicher Austausch.

(Leitsätze der Redaktion; Abänderung seines Beschlusses von Juli 2018: kein Eilrechtsschutz gegen den Widerruf des Abschiebungsverbots)

Schlagwörter: Tunesien, Änderung der Sachlage, Gefährder, Abschiebung, diplomatische Zusicherung, Zusicherung, Folgenbeseitigungsanspruch, Abänderungsantrag, Abänderungsbeschluss, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, vorläufiger Rechtsschutz, nachträgliche Zusicherung, Abschiebungsverbot, Europäische Menschenrechtskonvention, Sami A., Sami A,
Normen: VwGO § 80 Abs. 7 S. 2, VwGO § 80 Abs. 7, AufenthG § 60 Abs. 2 (a.F.), AsylG § 77 Abs. 1 2. Hs., AsylG § 77 Abs. 1, AsylG § 73c Abs. 2, VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Der ursprünglich gestellte Antrag gem. § 80 Abs. 5 VwGO auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Widerruf des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes alte Fassung (AufenthG a.F.) ist aufgrund veränderter Umstände im Sinne des § 80 Abs. 7 VwGO unbegründet geworden. [...]

Die Voraussetzungen für den Widerruf des Abschiebungsverbots liegen nach summarischer Prüfung im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nunmehr vor. [...]

Gemessen an diesem Maßstab sind die Umstände, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. in der Person des Antragstellers hinsichtlich Tunesien geführt haben, unter den nunmehr veränderten Umständen im Sinne von § 80 Abs. 7 VwGO [...] im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortgefallen bzw. ist die Gefahr der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unter die Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gesunken. [...]

Angesichts der sich zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt ergebenen Gesamtumstände, die sich insbesondere seit der Abschiebung des Antragstellers nach Tunesien und seit seiner Entlassung aus dem Polizeigewahrsam am 27. Juli 2018 entwickelt haben, hat sich die Lage in Tunesien - konkret bezogen auf den Antragsteller - im Hinblick auf die Gefahr von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nach der gebotenen summarischen Prüfung grundlegend und nicht nur vorübergehend geändert.

Das bislang bestehende Risiko einer menschenrechtswidrigen Behandlung wird unter Heranziehung der nunmehr vorliegenden diplomatischen Zusicherung erheblich reduziert und sinkt in einer Gesamtschau unter die Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. [...]

Nach der gebotenen summarischen Prüfung geht die Kammer davon aus, dass die Verbalnote vom 29. Oktober 2018 eine individualbezogene diplomatische Zusicherung darstellt, wodurch die Gefahr der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nach der Sach- und Rechtslage im maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung als deutlich herabgesetzt erscheint und letztlich in einer Gesamtschau unter die Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gesunken ist. [...]

Wenn das Bestimmungsland Zusagen gemacht hat, sind sie ein wichtiger Gesichtspunkt, der berücksichtigt werden muss. Sie reichen aber allein nicht aus, angemessen gegen die Gefahr von Misshandlungen zu schützen. Es muss vielmehr geprüft werden, ob sie in der Praxis eine ausreichende Garantie für den Schutz des Betroffenen vor der Gefahr von Misshandlungen bieten. Das Gewicht solcher Zusagen des Bestimmungslandes hängt in jedem einzelnen Fall von den zur maßgebenden Zeit gegebenen Verhältnissen ab. Bei der Beurteilung der praktischen Auswirkungen solcher Zusagen und ihres Gewichts ist die erste Frage, ob die allgemeine Menschenrechtslage im Bestimmungsland es allgemein ausschließt, Zusagen jeglicher Art zu berücksichtigen. [...]

Die Kammer geht nicht davon aus, dass Zusicherungen seitens Tunesien wegen der allgemeinen Menschenrechtslage überhaupt kein Gewicht beigemessen werden kann. [...]

Sofern nicht anzunehmen ist, dass Zusicherungen eines Staates generell kein Gewicht beizumessen ist, ist nach der Rechtsprechung des EGMR im Allgemeinen zunächst festzustellen, welches Gewicht die Zusagen haben, und dann, ob sie unter Berücksichtigung der Praxis in dem Bestimmungsland verlässlich sind (vgl. EGMR, Urteil vom 17. Januar 2012 - Nr. 8139/09, Othman/U.K. - NVwZ 2013, 487 Rn. 188 f.).

Dabei berücksichtigt der EGMR u. a. die Gesichtspunkte, ob der Wortlaut der Zusage mitgeteilt wurde, ob die Zusagen genau oder allgemein und vage sind, wer die Zusagen gegeben hat und ob diese Person das Bestimmungsland verpflichten kann, ob, wenn die Zusagen von der Zentralregierung des Bestimmungslands gemacht worden sind, erwartet werden kann, dass die örtlichen Behörden sie einhalten, ob die Zusagen eine Behandlung betreffen, die im Bestimmungsland rechtmäßig oder unrechtmäßig ist, ob die Zusagen von einem Konventionsstaat gemacht wurden, den Gesichtspunkt der Dauer und Bedeutung der bilateralen Beziehungen zwischen dem abschiebenden Staat und dem Bestimmungsland und ob dieses Land bisher ähnliche Zusagen eingehalten hat, des Weiteren ob die Einhaltung der Zusagen auf diplomatischem Wege oder über andere Bewachungsmechanismen objektiv geprüft werden kann, einschließlich des unverzüglichen Zugangs zu einem Anwalt, ob es ein wirksames Schutzsystem gegen Folter in dem Bestimmungsland gibt und ob der Staat bereit ist, mit internationalen Überwachungsorganen einschließlich internationaler Menschenrechtsorganisationen zusammenzuarbeiten, bei Foltervorwürfen zu ermitteln und die Verantwortlichen zu bestrafen, ob der Betroffene früher im Bestimmungsland misshandelt wurde und ob die Verlässlichkeit der Zusagen von den Gerichten des abschiebenden Konventionsstaates geprüft wurde (vgl. EGMR, Urteil vom 17. Januar 2012 - Nr. 8139/09, Othman/U.K. - NVwZ 2013, 487 Rn. 188 f. m.w.N.). [...]

Unter Zugrundelegung dieser Gesichtspunkte und der konkreten Umstände des Einzelfalls geht die Kammer nach der gebotenen summarischen Prüfung und der Sach- und Rechtslage im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt davon aus, dass der Verbalnote vom 29. Oktober 2018 im Wege der Gesamtschau ein durchgreifendes Gewicht zukommt und diese als diplomatische Zusicherung Tunesiens im Fall des Antragstellers unter Berücksichtigung der Praxis in Tunesien verlässlich ist.

Die in der Verbalnote vom 29. Oktober 2018 abgegebene Zusage ist unter Berücksichtigung des Wortlauts individualbezogen und deren Inhalt ausreichend genau sowie nicht nur allgemein und vage. [...]

Die Kammer geht ferner davon aus, dass - entgegen der Ansicht des Antragstellers - die Botschaft der Tunesischen Republik in Berlin, die die Verbalnote vom 29. Oktober 2018 verfasst und übermittelt hat, Tunesien bezüglich der abgegebenen Zusicherung verpflichten kann. [...]

Für die Verlässlichkeit der vorliegenden Zusicherung sprechen die Umstände ihrer Abgabe. Dabei sind sowohl die Geschehnisse, die sich seit der Abschiebung des Antragstellers in Tunesien für ihn ergeben haben, als auch die Umstände, die letztlich zur Abgabe der diplomatischen Zusicherung geführt haben, in den Blick zu nehmen. [...]

Für die Verlässlichkeit der Zusicherung spricht auch, dass diese vor dem Hintergrund der bestehenden bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Tunesien abgegeben wurde. Ein gesteigertes Interesse Tunesiens an der Einhaltung ergibt sich daraus, dass die Beziehungen bei Nichteinhaltung der Zusicherung möglicherweise belastet werden könnten. [...]

Nach Ansicht der Kammer bedarf es nach summarischer Prüfung keiner Entscheidung darüber, ob bisher ähnliche Zusagen seitens Tunesien in jeder Hinsicht und in jedem Fall eingehalten wurden. Jedenfalls wäre damit die Verlässlichkeit der Zusicherung in diesem besonderen Einzelfall nicht entfallen oder durchgreifend in Zweifel gezogen. [...]

Der Antragsteller verfügt über einen herausgehobenen Status, nicht zuletzt wegen seiner Bekanntheit, im Hinblick auf die politische Brisanz wegen der Umstände seiner rechtswidrigen Abschiebung nach Tunesien am 13. Juli 2018 und der Verpflichtung zur Rückholung (vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 13. Juli 2018 - 8 L 1315/18 -, juris, Rn. 14; OVG NRW, Beschluss vom 15. August 2018 - 17 B 1029/18 -, juris, Rn. 12) sowie wegen des damit verbundenen medialen Interesses. [...]

Zwar hält die Kammer nach wie vor an der Einschätzung fest, dass die Bekanntheit des Antragstellers und das mediale Interesse an seinem Fall für sich genommen - ohne Berücksichtigung einer Zusicherung - den Antragsteller nicht in ausreichendem Maße vor einer menschenrechtswidrigen Behandlung schützen würden (vgl. bereits zum nicht ausreichend langen und nachhaltigen Beobachtungsinteresse: VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 12. Juli 2018 - 7a L 1200/18.A -, juris, Rn. 99 ff und Beschluss vom 10. August 2018 - 7a L 1437/18.A -, juris, Rn. 24).

Gleichwohl ist diesem Aspekt ein Gewicht im Hinblick auf die Beurteilung der Verlässlichkeit der vorliegenden Zusicherung beizumessen. Der Umstand, dass die Frage der Einhaltung der Menschenrechte durch Tunesien im Fall des Antragstellers in den Fokus der internationalen Presse gerückt ist, dürfte in besonderem Maße die Einhaltung dieser Zusicherung fördern.

Die herausgehobene Stellung des Antragstellers ergibt sich auch daraus, dass dieser sowie die allgemeine Menschenrechtslage in Tunesien anlässlich seiner Abschiebung nicht nur in besonderem Maße in den Fokus der Öffentlichkeit gelangt sind (vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 10. August 2018 - 7a L 1437/18.A -, juris, Rn. 16 ff.), sondern er selbst sowie seine menschenrechtskonforme Behandlung auch Gegenstand zahlreicher Gespräche zwischen Vertretern Tunesiens und Deutschlands gewesen sind. [...]

Dieser intensive Austausch zwischen tunesischen und deutschen Stellen unterstreicht die herausgehobene Stellung des Antragstellers.

Auch unter Berücksichtigung der Praxis und der Verhältnisse in Tunesien ist die Zusicherung verlässlich. Die Kammer hält nach summarischer Prüfung die Missachtung der Zusicherung durch die örtlichen Behörden mit der Folge einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung des Antragstellers im Rahmen seiner Vernehmung nicht für beachtlich wahrscheinlich.

Trotz der von der Organisation Mondiale Contre la Torture (OMCT) gegebenen Einschätzung zur aktuellen Situation in Tunesien vom 7. November 2018 und weiterer auch im Jahr 2018 von der Organisation Contre la Torture en Tunisie (OCTT) beschriebener einzelner Vorfälle insbesondere von körperlicher Gewalt durch Polizeibeamte im Rahmen von Vernehmungen, im Polizeigewahrsam bzw. im Gefängnis in Tunesien (vgl. OCTT, Bericht zum Monat Januar 2018, Seite 3 f, Bericht Juli 2018, Seite 15 f. und Bericht August 2018, Seite 2 f und Bericht vom September 2018, Seite 1) und unter Berücksichtigung einer etwaigen Dunkelziffer geht die Kammer vielmehr im konkreten Fall des Antragstellers davon aus, dass die diplomatische Zusicherung zur menschenrechtskonformen Behandlung des Antragstellers auch von den örtlichen Behörden in Tunesien eingehalten werden wird. Dies hält die Kammer angesichts der oben dargelegten herausgehobenen Stellung des Antragstellers und der damit verbundenen erhöhten Schutzfunktion für sehr wahrscheinlich. Die Kammer geht davon aus, dass die tunesische Regierung mit gesteigertem Interesse die Einhaltung der gegebenen diplomatischen Zusicherung auf der Ebene der örtlichen Behörden überprüfen wird. Der zwischenstaatliche Austausch auf den verschiedenen Ebenen, insbesondere auf der administrativen, operativen Ebene, zu der auch der stellvertretende Leiter der Antiterror-Staatsanwaltschaft gehört, spricht für eine breit gestreute Befassung sowie das Interesse Tunesiens an der Einhaltung der Zusicherung auch auf der operativen Ebene. [...]

Vor diesem Hintergrund ist eine weitere - hier nicht vorliegende - Zusage der Überwachung der Einhaltung der Zusicherung unmittelbar durch Angehörige der konsularischen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland zur Vermeidung menschenrechtswidriger Behandlung entbehrlich (vgl. dazu auch BVerwG, Beschluss vom 30. August 2017 - 1 VR 5/17 -, juris, Rn. 58). [...]

Wenn - wie nunmehr vorliegend - durch die verlässliche individualbezogene Zusicherung die Gefahr der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unter die Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gesunken ist und damit die Voraussetzungen für das festgestellte Abschiebungsverbot nicht mehr vorliegen, ist entsprechend § 73c Abs. 2 AsylG die Feststellung des betreffenden Abschiebungsverbots i.S.d. § 60 Abs. 2 AufenthG a.F. zwingend zu widerrufen, ohne dass der Behörde ein Ermessen zusteht.

Schließlich überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Widerrufs des Abschiebungsverbots, da über dessen voraussichtliche Rechtmäßigkeit hinaus auch das erforderliche besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung vorliegt. [...]

Die Kammer geht von einem diesen Maßstäben genügenden besonderen Vollziehungsinteresse aus. Dies gilt mit Blick auf die durch das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen im Urteil vom 15. April 2015 (vgl. OVG NRW, Urteil vom 15. April 2015 - 17 A 1245/11, juris, Rn. 76, 105) bejahte gegenwärtige Gefährlichkeit des Antragstellers wegen seines als erwiesen angesehenen Aufenthalts in Afghanistan zwecks militärischer Ausbildung in einem Lager der Al Qaida und der Tätigkeit in der Leibgarde Bin Ladens sowie der Tatsache, dass er dies wahrheitswidrig in Abrede gestellt und durch die Legende einer religiösen Ausbildung in Karatschi zu kaschieren versucht hat. Dieses Verhalten schließt nach den Entscheidungsgründen eine glaubhafte Distanzierung von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln aus und lässt ihn als eine akute erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit erscheinen, da die jederzeitige Möglichkeit einer Nutzbarmachung der erworbenen militärischen Fertigkeiten zur Unterstützung der terroristischen Szene oder zur Ausübung terroristischer Gewalttaten besteht. [...]

Demgegenüber fallen die grundgesetzlich geschützten Positionen des Antragstellers nicht durchgreifend ins Gewicht. Insbesondere ist das Interesse des Antragstellers an seiner Rechtsverteidigung im Hauptsacheverfahren in ausreichendem Maße dadurch geschützt, dass er im Hauptsacheverfahren ggf. schriftlich vortragen kann. Zudem stehen ihm in Tunesien seine tunesische Rechtsanwältin sowie in Deutschland seine beiden Verfahrensbevollmächtigten zur Seite. [...]