VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 20.12.2018 - 8 K 10705/17 - asyl.net: M27000
https://www.asyl.net/rsdb/M27000
Leitsatz:

Im Dublinverfahren überstellte Person darf nicht für Überstellungskosten herangezogen werden:

1. Die Regelung des Art. 30 Abs. 3 Dublin-III-VO, wonach Kosten für die Überstellung im Dublin-Verfahren nicht der zu überstellenden Person auferlegt werden, beschränkt sich nicht lediglich auf fehlerhafte Überstellungen im Sinne des Art. 30 Abs. 2 Dublin-III-VO. Einer Heranziehung der §§ 66 Abs. 1, 67 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG als Ermächtigungsgrundlage für eine Kostenauferlegung stehen insofern europarechtliche Regelungen entgegen, so dass für sie kein Anwendungsbereich verbleibt.

2. Dies gilt auch für Sonderkosten, die aufgrund gescheiterter Überstellungsversuche entstehen, wenn die zu überstellende Person die Überstellung z.B. durch Untertauchen verhindert. Denn für ein dann in Betracht kommendes "Flüchtigsein" ist im Dublin-System keine über die Verlängerung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-VO hinausgehende Sanktion vorgesehen.

(Leitsätze der Redaktion; das Gericht hat die Berufung zugelassen)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Abschiebungskosten, Kosten, Überstellung, Überstellungskosten, Kostenschuldner,
Normen: AufenthG § 66 Abs. 1, AufenthG § 67 Abs. 1, AufenthG § 67 Abs. 3, AsylG § 34a, AufenthG § 58 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 58a Abs. 1 S. 1, VO 604/2013 Art. 30 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 30 Abs. 3, VO 604/2013 Art. 30 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

19 Der Bescheid wurde mit dem Regierungspräsidium Karlsruhe zwar durch die zuständige Behörde erlassen (I.), es bestehen aber bereits Zweifel daran, dass die herangezogene Ermächtigungsgrundlage tatsächlich einschlägig ist (II.). Jedenfalls sind Kosten der Überstellung im Dublin-Verfahren nicht dem Asylbewerber aufzuerlegen (III.).

I.

20 Für die Geltendmachung der Kosten ist das Regierungspräsidium Karlsruhe zuständig (§ 8 Abs. 2 Nr. 7 AAZuVO). Zwar ergeht die Abschiebungsanordnung durch das Bundesamt (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG), das Regierungspräsidium ist aber gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 4 und 6 AAZuVO die für die Abschiebung zuständige Behörde (vgl. hierzu auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1285/14 - juris Rn. 34).

II.

21 Es ist bereits zweifelhaft, ob der Leistungsbescheid seine Ermächtigungsgrundlage in §§ 66 Abs. 1, 67 Abs. 1 und 3 AufenthG finden kann.

22 Nach § 66 Abs. 1 AufenthG sind Kosten, die durch die Durchsetzung einer räumlichen Beschränkung, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung entstehen, vom Ausländer zu tragen. Unstreitig handelt es sich bei der Überstellung weder um eine räumliche Beschränkung noch um eine Zurückweisung oder Zurückschiebung. Die Kammer hält es zudem für zweifelhaft, dass es sich bei einer die Abschiebungsanordnung des § 34a AsylG vollziehenden Überstellung um eine Abschiebung im Sinne des § 66 Abs. 1 AufenthG handelt. Während den Regelungen der §§ 66 ff. AufenthG der Grundgedanke des Veranlasser- bzw. Verursacherprinzips zugrunde liegt (vgl. Funke - Kaiser, in: GK-AufenthG, Loseblattslg., § 66 Rn. 3 [Stand März 2015]; Bauer/Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl., 2018, § 66 AufenthG Rn. 2) und die Haftung regelmäßig an den unerlaubten Aufenthalt bzw. dessen aufenthaltsrechtliche Folgen anknüpft, soll mit der Überstellung im Dublinsystem lediglich gewährleistet werden, dass der zuständige Mitgliedstaat seinen Prüfpflichten in angemessener Zeit nachkommen kann, sodass die Überstellung vorrangig ihren Grund in der Vollziehung von Zuständigkeitsregelungen hat.

23 Die Maßnahmen der räumlichen Beschränkung, Zurückweisung, Zurückschiebung und Abschiebung werden im Aufenthaltsgesetz normiert. Eine Abschiebung hat gemäß § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zur Voraussetzung, dass die Ausreisepflicht vollziehbar ist, eine Ausreisefrist nicht gewährt wurde oder diese abgelaufen ist, und die freiwillige Erfüllung der Ausreisepflicht nicht gesichert ist oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Überwachung der Ausreise erforderlich erscheint. Das Aufenthaltsgesetz kennt zudem auch den Begriff der Abschiebungsanordnung. Nach § 58a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde auf Grund einer auf Tatsachen gestützten Prognose zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ohne vorhergehende Ausweisung eine Abschiebungsanordnung erlassen. Die Modalitäten des Vollzugs einer Überstellung entsprechen diesen Voraussetzungen nicht. Im Anwendungsbereich des § 34a AsylG scheidet eine freiwillige Ausreise bereits von Gesetzes wegen aus, zudem liegt der Abschiebungsanordnung keine besondere Gefahr zugrunde. Auch angesichts der Tatsache, dass das Aufenthaltsgesetz den Begriff der Überstellung an anderer Stelle kennt (vgl. § 2 Abs. 15, § 71 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG), stellt sich schließlich die Frage, ob die Begriffe der räumlichen Beschränkung (vgl. § 61 AufenthG), Zurückweisung (§ 15 AufenthG), Zurückschiebung (§ 57 AufenthG) oder Abschiebung im Regelungsbereich der §§ 66 ff. AufenthG abschließend durch die Regelungen des Aufenthaltsgesetzes bestimmt werden. Dann wäre das Schweigen der §§ 66 ff. AufenthG zu den Kosten der Überstellung beredt mit der Folge, dass eine Kostenersatzvorschrift fehlte.

III.

24 Es kann aber letztlich offenbleiben, ob § 66 Abs. 1, § 67 AufenthG als Ermächtigungsgrundlage in Betracht kommen könnten, da einer Geltendmachung der Kosten der Überstellung vorrangige Normen europäischen Rechts entgegenstehen.

25 Gemäß Art. 30 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26.06.2013 (Dublin III-VO) sind die Kosten für die Überstellung eines Asylbewerbers in den zuständigen Mitgliedstaat von dem überstellenden Mitgliedstaat - hier der Bundesrepublik Deutschland - zu tragen. Lässt sich aus dieser Regelung gegebenenfalls noch kein Regressverbot gegenüber der zu überstellenden Person ableiten, stellt Art. 30 Abs. 3 Dublin III-VO klar, dass die Überstellungskosten nicht den nach dieser Verordnung zu überstellenden Personen auferlegt werden dürfen.

26 Nationale Regelungen können hiervon zunächst nicht mit Blick auf Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO abweichen. [...] Mit seinem Verweis auf die innerstaatlichen Rechtsvorschriften bringt Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO lediglich zum Ausdruck, dass im Dublinsystem im Hinblick auf konkrete Verfahren der Aufenthaltsbeendigung beziehungsweise Überstellung keine abschließende, ins Einzelne gehende Regelung getroffen wird. Dabei soll insbesondere der Komplex des Verwaltungsvollzugs und dessen Ausgestaltung in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten gestellt werden. Dies erlaubt jedoch nicht den Schluss, dass es im Belieben eines jeden Mitgliedstaats stehen soll, nationale Regelungen darüber zu treffen, mit welchen kostenrechtlichen Folgen eine Abschiebung zu erfolgen hat. Liegen konkrete Bestimmungen auf Ebene des europäischen Rechts vor, sind diese weiterhin anzuwenden (vgl. zum Regelungsgehalt des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2015, a.a.O. Rn. 31). Eine solche abschließende Bestimmung stellt dabei Art. 30 Abs. 3 Dublin III-VO dar. Dass auf Grundlage der Öffnungsklausel des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO gerade keine nationalen Kostenregelungen getroffen oder angewandt werden können, ergibt sich auch aus der Systematik der Art. 29 ff. Dublin III-VO. Ausweislich der Überschriften werden durch Art. 29 Dublin III-VO die Modalitäten geregelt, während sich Art. 30 zu den Kosten einer Überstellung verhält. Artikel 30 enthält dabei keine dem Art. 29 Dublin III-VO entsprechende Öffnungsklausel. Art. 30 Abs. 3 Dublin III-VO stellt vielmehr abschließend klar, dass die Kosten der Überstellung unter keinen Umständen der überstellenden Person aufzuerlegen sind (so auch Hruschka/Maiani, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2nd Edition, 2016, Art. 30 Dublin III-VO Rn. 1). [...]

28 Anhaltspunkte für die Beschränkung des Begriffs der Überstellungskosten auf einzelne Kostenpunkte ergeben sich im Wege der Auslegung aus den Regelungen der Dublin III-VO und ihren Durchführungsverordnungen dabei entgegen der Auffassung des Beklagten nicht.

29 Art. 30 Abs. 3 Dublin III-VO beschränkt sich vor allem nicht auf fehlerhafte Überstellungen im Sinne des Art. 30 Abs. 2 Dublin III-VO. [...]

30 Eine Beschränkung des Anwendungsbereichs des Art. 30 Abs. 3 Dublin III-VO auf einzelne Kostenpunkte ist auch den Erwägungsgründen der Dublin-III-VO nicht zu entnehmen, die keine Aussage zum Ursprung und den Gründen der Kostenregelung treffen. [...]

31 Eine wie von dem Beklagten vorgenommene Beschränkung widerspräche zudem dem vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten Grundsatz, dass die finanzielle Belastung aufgrund der Anforderungen, die sich für einen Mitgliedstaat daraus ergeben, dass er dem Unionsrecht nachkommen muss, in der Regel den Mitgliedstaat trifft, der diese Anforderungen zu erfüllen hat, sofern das Unionsrecht nichts anderes bestimmt (vgl. EuGH, Urteil vom 27.09.2012 - C-179/11 - Cimade und GISTI - juris Rn. 59). [...]

32 Gegen eine beschränkende Auslegung des Begriffs der Überstellungskosten spricht auch die Gesamtsystematik des Überstellungsrechts. Während einer Abschiebung zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Rahmen des Asylverfahrens mit der Ankunft im Zielstaat entsprochen werden kann, endet die Überstellung erst mit dem Eintreffen des Asylbewerbers bei der zuständigen Behörde. Die Überstellungsregelungen der Dublin-Verordnungen dienen dem Zweck, den Asylbewerber im Rahmen eines behördlich überwachten Verfahrens den Behörden des für die Durchführung seines Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaats zu übergeben. Die Überstellung ist dementsprechend erst mit dem Eintreffen bei der zuständigen Behörde im aufnehmenden Drittstaat vollzogen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.09.2015 - 1 C 26.14 - juris). [...]

33 Etwas anderes ergibt sich auch nicht für die Fälle, in denen der Kläger seine Abschiebung z.B. durch Untertauchen verhindert und deswegen - wie im vorliegenden Fall - Sonderkosten entstehen. Eine solche Auslegung wird zunächst nicht vom Wortlaut des Art. 30 Abs. 3 Dublin III-VO getragen, der undifferenziert die Geltendmachung sämtlicher Überstellungskosten ausschließt. Den Asylbewerber trifft zudem keine Pflicht, an der Durchführung seiner Überstellung mitzuwirken. Soweit der Kläger Abschiebungsversuche vereitelt hat, indem er bei unangekündigten, später aber auch bei angekündigten Abschiebungsterminen nicht in seiner Unterkunft anzutreffen war, erwächst hieraus keine Kostenpflicht, da sich aus einem möglicherweise in Betracht kommenden "flüchtig sein" des Klägers keine Sanktionswirkungen im Dublinsystem ergeben. Es hat lediglich zur Folge, dass sich die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO verlängert. [...]