VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 12.04.2019 - 8 A 343/17 - asyl.net: M27246
https://www.asyl.net/rsdb/M27246
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Eritreer wegen Wehrdienstentziehung:

Eritreischen Asylsuchenden drohen wegen illegaler Ausreise und damit einhergehender Entziehung vom Nationaldienst bei einer Rückkehr Verfolgungshandlungen, die an eine unterstellte oppositionelle Haltung anknüpfen.

(Leitsätze der Redaktion; festhaltend an VG Magdeburg, Urteil vom 15.05.2017 – 8 A 175/17)

Anmerkung:

Schlagwörter: Eritrea, Upgrade-Klage, Nationaldienst, Politmalus, Militärdienst, Nationaler Dienst, Wehrdienstverweigerung, Wehrdienstentziehung, Flüchtlingsanerkennung, politische Verfolgung, illegale Ausreise
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 4 S. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2, AsylG § 3a Abs. 3, AsylG § 3b Abs. 1,
Auszüge:

[...]

9 [...] Soweit dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG verwehrt wurde, ist der streitbefangene Bescheid rechtswidrig und verletzt den Kläger gemäß § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in seinen Rechten. Denn der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]

13 Unter Zugrundelegung dessen ist die Furcht des Klägers vor Verfolgung begründet. Im Fall seiner Rückkehr droht im mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung i.S.d. § 3 a Abs. 1 und 2 AsylG, welche i.S.d. § 3 a Abs. 3 AsylG an Verfolgungsgründe i.S.d. § 3 b Abs. 1 AsylG anknüpfen.

14 a.) Die Kammer knüpft an seiner bisherigen Rechtsprechung zur Bewertung des Wehr-/Nationaldienstes in Eritrea an. In dem Urteil vom 15.05.2017 (8 A 175/17; juris) führt das Gericht aus:

15 "[…] Dabei ist das Gericht davon überzeugt, dass einem Staatsbürger Eritreas, welcher sich im dienstpflichtfähigen Alter befindet und damit illegal ausreist, bei Rückkehr in sein Heimatland, die beachtliche Verfolgung i.S.d. § 3 Asyl droht (so auch die wohl h.M. in der Rechtsprechung: VG Saarland, Urteil v. 17.01.2017, 3 K 2490/16 und 3 K 2357/16,VG Schwerin, Urteil v. 20.01.2017, 15 A 3003/16 AS SN; VG Hamburg, GB v. 26.10.2016, 4 A 1646/16; a. A.: VG München, Urteil v. 10.01.2017, M 12 K 16.33214; alle juris; zur Problematik bei Ausreise als Säugling/Kind: VG Potsdam, Urteil v. 17.02.2016, VG 6 K 1995/15.A; VG Magdeburg, Urteil v. 16.02.2017, 8 A 679/16 MD; beide juris). [...]

30 b.) An dieser asylrelevanten Bewertung des Wehr-/Nationaldienstes hält die Kammer fest. Das Gericht ist weiterhin der Überzeugung, dass die staatlichen Sanktionen wegen des Entzuges aus dem Wehr-/Nationaldienst nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen allgemeine staatsbürgerliche Pflichten dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seines unterstellten oppositionellen Verhaltens mit flüchtlingsrechtlich relevanter Verfolgung treffen sollen (vgl. zu dieser Voraussetzung: BVerwG, Beschluss v. 24.04.2017, 1 B 22.17; juris). [...]

32 Die Kammer macht sich die diesbezügliche ausführliche Bewertung und Darstellung der aktuellen Lage in Eritrea durch das Verwaltungsgericht Cottbus zu Eigen; so heißt es in dem Urteil vom 26.10.2018 (6 K 673/16.A juris mit Verweis auf das Urteil v. 10.11.2017):

33 "Hierfür spricht zum einen die Strafpraxis der eritreischen Behörden, wobei es insbesondere im Hinblick darauf, dass – wie dargelegt – die rechtlichen Bestimmungen für die tatsächliche Sanktionierungspraxis der eritreischen Behörden kaum relevant sind, nicht ausschlaggebend darauf ankommt, dass die gesetzlichen Vorschriften nicht an eine bestimmte politische Haltung oder an bestimmte Persönlichkeitsmerkmale anknüpfen (vgl. auch Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 -, juris Rn. 35; a. A.: Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 1. September 2017 – 28 K 166.17.A -, juris Rn. 40). Maßgeblich für die Annahme einer politischen Verfolgung ist in diesem Zusammenhang vielmehr, dass die Bestrafung von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern nach den oben aufgeführten Erkenntnissen außergerichtlich und willkürlich durch militärische Vorgesetzte vorgenommen wird und Rechtsmittel gegen deren Strafzumessung nicht erhoben werden können (vgl. auch SEM Focus Eritrea – Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22. Juni 2016 (aktualisiert am 10. August 2016), Ziff. 3.1.2., wonach das eritreische Justizministerium (sic!) keine Angaben zur Zuständigkeit für die Bestrafung von Deserteuren aus dem Nationaldienst machen konnte). Hinzu kommt, dass die Haft unter erheblich menschenrechtswidrigen Bedingungen erfolgt, wobei gegen Deserteure und Wehrdienstverweigerer – ebenso wie gegen Häftlinge, die aus (anderen) politischen oder religiösen Gründen inhaftiert werden – in zahlreichen Fällen verschärfend Incommunicado-Haft in speziellen Gefängnissen verhängt und dass dabei häufig misshandelt und gefoltert wird (vgl. EASO-Bericht Länderfokus Eritrea, Mai 2015, Ziff. 4.1).

34 Zum anderen spricht der ideologische Stellenwert des eritreischen Nationaldienstes für die Zuschreibung einer gegnerischen politischen Überzeugung.

35 Nicht nur unterscheidet er sich vom Wehrdienst anderer Staaten durch seine unbegrenzte und willkürliche Dauer, durch die Heranziehung der Dienstpflichtigen in Form von Zwangsarbeit und die dabei häufig herrschenden unmenschlichen Bedingungen bis hin zur Anwendung von Folter und Sexualstraftaten (vgl. Verwaltungsgericht Hamburg, Gerichtsbescheid vom 26. Oktober 2016 – 4 A 1646/16 -, juris Rn. 34), er ist vielmehr ein politisches Projekt, das die Regierung nicht nur zur Verteidigung des Landes, sondern als "Schule der Nation" auch für den Wiederaufbau Eritreas nach der Unabhängigkeit und zur Vermittlung der nationalen Ideologie schuf (vgl. SEM Focus Eritrea – Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22. Juni 2016 (aktualisiert am 10. August 2016), Ziff. 1.1.1.; EASO-Bericht Länderfokus Eritrea, Mai 2015, Ziff. 3). [...]

36 Auch während der militärischen Ausbildung unmittelbar im aktiven Nationaldienst werden die Rekruten politisch geschult. Im Rahmen eines Umerziehungsprozesses sollen sie alle bisherigen ethnischen, religiösen und sozialen Bindungen und die aus ihnen resultierenden Handlungsverpflichtungen ebenso wie individuelle Eigeninteressen zugunsten einer vollständigen Unterordnung unter die Bedürfnisse und Anordnungen der Regierungspartei aufgeben. Wer sich dem Nationaldienst entzieht oder aus ihm desertiert, gilt als Verräter an der Nation und der gemeinsamen Sache, weshalb Desertion per se als politische Oppositionshandlung angesehen wird (vgl. Pro Asyl: Eritrea – Desertion, Flucht & Asyl, September 2010, S. 7; EASO-Bericht Länderfokus Eritrea, Mai 2015, Ziff. 3.8; SEM Focus Eritrea – Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22. Juni 2016 (aktualisiert am 10. August 2016), Ziff. 3.1.4.). [...]

37 Ebenso wenig spricht der Umstand, dass der Nationaldienst nicht nur von besonderer politischer, sondern zunehmend auch von wirtschaftlicher Bedeutung für den Staat Eritrea ist, mit überwiegendem Gewicht gegen die Annahme einer politischen Verfolgung (vgl. so aber Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 1. September 2017 – 28 K 166.17.A -, juris Rn. 43; Verwaltungsgericht Düsseldorf, Urteil vom 23. März 2017 – 6 K 7338/16.A -, juris Rn. 162 ff.). [...]

38 c.) Das erkennende Gericht ist nicht der Auffassung, dass die Zahlung der sog. "Diaspora-Steuer" und/oder Unterzeichnung eines sog. "Reueformulars" die nicht asylrelevante Verfolgung belegt (so aber: OVG Hamburg, Urteil v. 21.09.2018, 4 Bf 186/18.A; VG Dresden, Urteil v. 17.04.2018, 2 K 2927/16.A; VG Berlin, Urt. v. 01.09.2017, 28 K 166.17.A; alle juris). [...]

39 Dem ist bereits entgegen zu halten, dass es einer Willkürherrschaft immanent ist, dass der wahre Handlungswille nicht transparent erkennbar und vielfach ambivalent erscheint. Die Verfolgung eines potenziell oppositionellen staatsgefährdenden Verhaltens schließt es nicht aus, sich diesen Personenkreis gleichsam als finanzielle Einnahmequelle zu erschießen. Derartiges Agieren ist gerade totalitären "klammen" Staaten nicht fremd. [...]

46 Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass der eritreische Staat jedem Rückkehrer, der das Land illegal verlassen und deshalb keinen Nationaldienst geleistet hat, grundsätzlich eine regimefeindliche Gesinnung unterstellt. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Betreffende - wie vorliegend der Kläger - Eritrea bereits im Kindesalter illegal verlassen hat (vgl. VG Frankfurt, Urteil v. 27.03.2019 - 8 K 971/17.F.A. -, Seite 6). Denn die eritreische Regierung beruft auch Minderjährige in erheblichen Umfang in den Nationaldienst ein und sie zieht sogar Kinder unter 15 Jahren zum Nationaldienst heran. Weil die eritreischen Behörden das Alter anhand von Äußerlichkeiten einschätzen, kommt es immer wieder zur Rekrutierung von Minderjährigen. [...]