VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 02.04.2019 - 6 K 452/18 - asyl.net: M27249
https://www.asyl.net/rsdb/M27249
Leitsatz:

Abschiebungsverbot bei drohender Haft in Russland:

Die allgemeinen Haftbedingungen in der Russischen Föderation stellen aufgrund des Risikos von Folter und Misshandlungen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK dar. Ohne die Einholung einer individualbezogenen Zusicherung ist daher das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes festzustellen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, Abschiebungsverbot, Haftbedingungen, Zusicherung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Folter,
Normen: EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

43 Daran gemessen besteht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Russische Föderation für längere Zeit inhaftiert werden wird und die Bedingungen der Haft in Widerspruch zu den Vorgaben des Art. 3 EMRK stehen werden. Der Kläger wird beschuldigt, mit Drogen gehandelt zu haben. Dieses Delikt kann nach dem russischen Strafgesetzbuch mit einer erheblichen Freiheitsstrafe sanktioniert werden. Zwar kann nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass es zu Folterungen des Klägers kommen wird, um dessen gerichtliche Verurteilung zu erreichen. Für die Sicherheitskräfte kommt ein solches Vorgehen in Betracht, wenn ohne Aussage des Beschuldigten Zweifel an der Verurteilung bestehen; denn unter Folter erzwungene "Geständnisse" werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (BFA Länderinformationsblatt vom 31.08.2018, S. 26). Allerdings dürfte vorliegend für die Sicherheitskräfte eine solche Notwendigkeit mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen, weil der verdeckte Ermittler, an den der Kläger Drogen verkauft haben soll, als Zeuge zur Verfügung stehen dürfte. Die somit bestehende hohe Wahrscheinlichkeit der Verurteilung des Klägers bedingt eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass dieser über einen längeren Zeitraum eine Haftstrafe wird verbüßen müssen.

44 Die Bedingungen dieser Haft werden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Widerspruch zu den Vorgaben des Art. 3 EMRK stehen. Der EGMR hat die Haftbedingungen in der Russischen Föderation mehrfach beanstandet. In einer Entscheidung aus dem Jahr 2012 heißt es, der Gerichtshof habe inzwischen in mehr als 80 Fällen gegen Russland einen Verstoß gegen Art. 3 und 13 EMRK festgestellt, etwa 250 auf den ersten Blick begründete weitere Fälle warteten auf Bearbeitung. Offensichtlich handele es sich um ein strukturelles Problem (vgl. EGMR, Urt. v. 10.01.2012 – 42525/07 und 60800/08 –, NVwZ-RR 2013, 284, Rn. 184). Dass sich die allgemeinen Haftbedingungen in der Russischen Föderation seitdem erheblich verbessert haben, kann auf Grundlage der dem Gericht vorliegenden Informationen nicht angenommen werden. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl berichtet, dass es 2017 im gesamten Land Meldungen über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen gegeben hat (BFA Länderinformationsblatt vom 31.08.2018, S. 26). Im Juli 2018 tauchten im Internet Videos von der Folterung eines Häftlings durch Gefängnispersonal in einem Gefängnis in Jaroslawl auf. Grund für die Folterung war, dass der betroffene Häftling, der sich wegen eines Diebstahls im Gefängnis befand, sich wiederholt über die Haftbedingungen beschwert hatte (Welt, Foltern für die Statistik, 27.07.2018). Die Veröffentlichung des Videos führte zu Berichten von mindestens 50 weiteren Folterfällen, teilweise mit Todesfolge (AA, Lagebericht vom 13.02.2019, S. 16). Das Auswärtige Amt erwartet dadurch keine wesentliche Verbesserung der Haftbedingungen; denn das Interesse der Bevölkerung an dem Thema sei schnell wieder abgeflaut ist und nach wie vor akzeptiere ein deutlicher Anteil der Bevölkerung die Anwendung von Folter unter bestimmten Umständen (AA, Lagebericht vom 13.02.2019, S. 16; im Ergebnis ebenso Welt, Foltern für die Statistik, 27.07.2018). Unter Berücksichtigung dessen kann zwar nicht angenommen werden, dass die Haftbedingungen in der Russischen Föderation in jedem Fall mit Art. 3 EMRK unvereinbar sind. Allerdings besteht generell ein beachtliches Risiko dafür. [...]

48 [...] Durch Einholung einer individualbezogenen Zusicherung zu den Haftbedingungen des Klägers kann die Beklagte demzufolge die Voraussetzungen für den Widerruf des Abschiebungsverbots schaffen. [...]