VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Urteil vom 12.04.2019 - 6 K 652/16.A - asyl.net: M27272
https://www.asyl.net/rsdb/M27272
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung nach Flucht aus aktivem Nationaldienst in Eritrea; fehlerhafte Übersetzungen in der Anhörungsniederschrift beim Bundesamt:

1. In den vergangenen Jahren kam es beim Bundesamt zu zahlreichen Missständen mit schlecht ausgebildeten, nicht beeideten und gerade im Fall Eritreas regimetreuen Dolmetschenden, die Angaben der Asylsuchenden falsch oder unvollständig übersetzt bzw. Betroffene eingeschüchtert, beschimpft und darin behindert haben sollen, hinreichende Angaben zu ihren Fluchtgründen zu machen.

2. Der eritreische Staat unterstellt im Falle einer Desertion oder Wehrdienstentziehung eine politische Gegnerschaft, an die eine drohenden Bestrafung maßgeblich anknüpft. Die Flucht aus dem aktiven Nationaldienst wird von den eritreischen Behörden bei einer Bestrafung erschwerend gewertet.

(Leitsätze der Redaktion; ähnlich: VG Cottbus, Urteil vom 26.10.2018 - 6 K 673/16.A - asyl.net: M27274)

Anmerkung:

Schlagwörter: Eritrea, Nationaldienst, illegale Ausreise, Politmalus, Militärdienst, Nationaler Dienst, Wehrdienstverweigerung, Wehrdienstentziehung, Flüchtlingsanerkennung, politische Verfolgung, Rekrutierung,
Normen: AsylG § 3b, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3c, AsylG § 3b Abs. 2,
Auszüge:

[...]

29 Die Annahme, dass die abweichenden Angaben im Protokoll der – ohnehin nur 20 Minuten langen und damit wenig belastbaren - Anhörung des Klägers beim Bundesamt auf einer unzutreffenden oder unvollständigen Übersetzung des damaligen Dolmetschers beruhen, wird zum anderen durch die von der Kammer diesbezüglich beigezogenen Presseartikel gestützt, wonach es in den vergangenen Jahren zu zahlreichen Vorwürfen über entsprechende Missstände beim Bundesamt gekommen ist und schlecht ausgebildete und nicht beeidete bzw. – wie gerade auch im Fall Eritreas – regimetreue Dolmetscher die Angaben der Asylantragsteller falsch oder unvollständig übersetzt bzw. Betroffene eingeschüchtert, beschimpft und darin behindert haben sollen, hinreichende Angaben zu ihren Fluchtgründen zu machen (vgl. Pressebericht der Tageszeitung vom 6. Juli 2015 "Gefährliche Dolmetscher", www.taz.de/!5209306 ; Bericht vom 29. Februar 2016 "Die Angst eritreischer Flüchtlinge vor regimetreuen Dolmetschern", www.bildkorrekturen.de/archive/5837; Pressebericht der Süddeutschen Zeitung vom 31. August 2016: "Wenn das Schicksal von Flüchtlingen in der Hand des Dolmetschers liegt", www.sueddeutsche.de/politik/2.220 ; Pressebericht der Zeit Online vom 22. November 2017: "BAMF: Feind hört mit. Werden Asylbewerber von Dolmetschern der Flüchtlingsbehörde bedrängt und bespitzelt?", www.zeit.de/2017/48). Entsprechend hat auch der Kläger angegeben, von dem Dolmetscher des Bundesamtes immer wieder gehindert worden zu sein, seine Angaben zu ergänzen, was nahelegt bzw. zumindest plausibel erscheinen lässt, dass dieser Dolmetscher das Vorbringen des Klägers auch unzutreffend übersetzt hat. [...]

30 1.2) Wegen seiner Desertion und dem damit verbundenen illegalen Verlassen des Landes drohen dem Kläger in Eritrea Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von § 3 a Abs. 1 und 2 AsylG. [...]

44 2. Die dem Kläger nach alledem drohende Verfolgung knüpft nach Überzeugung der Kammer auch an einen Verfolgungsgrund im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b AsylG an, und zwar an seine politische Überzeugung. [...]

49 Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze ist hier nach Überzeugung der Kammer anhand der Erkenntnislage in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung davon auszugehen, dass die dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Eritrea mit überwiegender Wahrscheinlichkeit drohende Bestrafung wegen Desertion und illegaler Ausreise an seine (vermutete) politische Überzeugung als Verfolgungsgrund im Sinne von §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG anknüpft. Denn aus den eingeführten Erkenntnissen ergeben sich unter würdigender Gesamtbetrachtung überwiegende Anhaltspunkte dafür, dass der eritreische Staat im Falle einer Desertion oder Wehrdienstentziehung und einer damit begründeten Flucht aus Eritrea eine politische Gegnerschaft unterstellt, an die die drohende Bestrafung maßgeblich anknüpft (vgl. ebenso Verwaltungsgericht Schwerin, Urteil vom 29. Februar 2016 – 15 A 3628/15 As SN -, juris Rn. 50 ff., und Urteil vom 20. Januar 2017 – 15 A 3003/16 As SN -, juris Rn. 49 ff.; Verwaltungsgericht Hamburg, Gerichtsbescheid vom 26. Oktober 2016 – 4 A 1646/16 -, juris Rn. 36; Verwaltungsgericht Aachen, Urteil vom 16. Dezember 2016 – 7 K 2273/16.A -, juris Rn. 46; Verwaltungsgericht Minden, Urteil vom 13. November 2014 – 10 K 2815/13.A -, juris Rn. 50; Verwaltungsgericht Frankfurt, Urteil vom 12. August 2013 – 8 K 2202/13.F.A -, juris Rn. 15). [...]

57 [...] Hieran hält die Kammer fest (vgl. zudem Verwaltungsgericht Hannover, Urteil vom 25. Oktober 2017 – 3 A 5931/16 -, juris Rn. 74 sowie Rn. 77, wonach für die eritreischen Behörden die mit der Desertion typischerweise mitverwirklichte illegale Ausreise aus Eritrea den wesentlichen Anknüpfungspunkt für die Annahme einer regimefeindlichen Gesinnung und deren asylrelevante Ahndung biete). Es sind nach wie vor keinerlei hinreichend belastbare und zuverlässige Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass sich an den maßgeblichen Herrschaftsstrukturen des eritreischen Regimes etwas geändert hätte. [...]

59 Dass der Kläger aus dem aktiven Nationaldienst, also dessen militärischen Teil geflohen ist, würde zudem von den eritreischen Behörden bei einer Bestrafung erschwerend gewertet werden (vgl. EASO-Bericht Länderfokus Eritrea, Mai 2015, Ziff. 3.8.1; SEM Focus Eritrea – Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22. Juni 2016 (aktualisiert am 10. August 2016), Ziff. 3.1.5.). [...]