VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 20.02.2019 - W 3 K 18.31910 - asyl.net: M27302
https://www.asyl.net/rsdb/M27302
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Frau aus Eritrea wegen Gefahr der Zwangsehe nach Vergewaltigung:

Die Zwangsverheiratung durch die eigene Familie mit dem Vergewaltiger stellt eine geschlechtsspezifische Verfolgung durch einen nicht-staatlichen Akteur dar. Der eritreische Staat ist nicht willens und in der Lage, Frauen, die von ihrer Familie bedroht oder gegen ihren Willen zwangsverheiratet werden, Schutz zu bieten. Eine interner Schutzalternative ist nicht gegeben.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Eritrea, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Zwangsehe, Vergewaltigung, sexueller Missbrauch, Straflosigkeit, nichtstaatliche Verfolgung, interner Schutz, interne Fluchtalternative,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3e, AsylG § 3c Nr. 3 AsylG
Auszüge:

[...]

13 Gemessen an diesen Maßstäben hat die Klägerin zur Überzeugung des Gerichts Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, da sie glaubhaft gemacht hat, dass sie in ihrem Herkunftsland der Gefahr der geschlechtsspezifischen Verfolgung ausgesetzt war.

14 Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft und widerspruchsfrei vorgetragen, dass sie in ihrem Heimatdorf vergewaltigt wurde, und dass ihre Familie sie zwingen wollte, den Vergewaltiger zu heiraten. Dieser Zwangsverheiratung hat sich die Klägerin durch ihre Flucht aus Eritrea entzogen. Bei einer Zwangsverheiratung mit dem Vergewaltiger handelt es sich um eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Eine Zwangsverheiratung beeinträchtigt die betroffene Frau in ihrem Recht auf individuelle und selbstbestimmte Lebensführung und in ihrem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Die mit der Zwangsverheiratung verbundene Zwangslage liefert die Frau dauerhaft und ohne Aussicht auf Hilfe als reines Objekt der Befriedigung oder zu Fortpflanzungszwecken den sexuellen Trieben des auserwählten Ehemannes aus. Damit handelt es sich bei den mit einer aufgenötigten Eheschließung einher gehenden Rechtsverletzungen um eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG (VG Ansbach, U.v. 16.3.2017 - AN 1 K 16.32047 - juris Rn. 76). Außerdem verstößt eine Zwangsverheiratung auch gegen die Freiheit der Eheschließung, die in internationalen Konventionen (Art. 13 EMRK, Art. 9 GR-Charta, Art. 16 Abs. 2 UN-Menschenrechtserklärung) garantiert ist (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 17.3.2016 - 13a B 15.30241- juris).

15 Die Verfolgung knüpft an das Geschlecht der Klägerin an. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft.

16 Die Verfolgung ging von der Familie, also nichtstaatlichen Akteuren im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG aus. Der eritreische Staat ist jedoch zur Überzeugung des Gerichts nicht willens und in der Lage, Frauen, die von ihrer Familie bedroht oder gegen ihren Willen zwangsverheiratet werden, Schutz zu bieten. In der überwiegend ländlichen Bevölkerung herrscht ein von traditionellen Wertvorstellungen geprägtes Rollenverständnis von Frauen vor (Kindererziehung, Haus- und Feldarbeit, keine sexuelle Selbstbestimmung). Viele unverheiratete Mütter, auch wenn die Schwangerschaft auf sexuelle Gewalt zurückzuführen ist, sind von gesellschaftlicher Ächtung, oft auch in der eigenen Familie betroffen. [...] Die Klägerin konnte auch keine interne Schutzalternative (§ 3e AsylG) in einem Teil ihres Herkunftsland erlangen. [...]