VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 27.05.2019 - 5a K 3532/17.A - asyl.net: M27423
https://www.asyl.net/rsdb/M27423
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für einen jungen Afghanen, der sich einer Rekrutierung durch die Taliban durch die Flucht entzogen hat:

1. Die Gefahr der Zwangsrekrutierung und der Bestrafung bei Ablehnung stellt keine Verfolgung wegen (unterstellter) politischer Überzeugung dar, wenn die Zurückweisung des Rekrutierungsgesuchs primär erfolgte, weil die Familie den einzigen Sohn nicht hergeben wollte und der Betroffene Angst um Leib und Leben hatte. 

2. Die Gruppe der jungen, wehrfähigen Männer in Afghanistan erfüllt nicht die Voraussetzungen einer sozialen Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG. 

3. Bei einer durch die Taliban vorverfolgt ausgereisten Person ist davon auszugehen, dass dieser bei Rückkehr nach Afghanistan konkret ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG droht, da der Staat nicht in der Lage ist, hinreichend Schutz zu bieten.

4. Ein junger afghanischer Mann mit überdurchschnittlicher Schulbildung kann nicht auf internen Schutz in einer anderen Großstadt in Afghanistan verwiesen werden, wenn er bisher bei seinen Eltern gelebt und noch keinen Beruf ausgeübt hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Taliban, nichtstaatliche Verfolgung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, interner Schutz, interne Fluchtalternative, Vorverfolgung, junge männer, junger Mann, soziale Gruppe, Wehrdienstverweigerung, Militärdienst, Polizei, ANP,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b, AsylG § 3d, AsylG § 3e, AsylG § 4,
Auszüge:

[...]

a) Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG. [...]

(1) Nach seinem Vortrag hätten die Taliban versucht hätten, ihn zwangsweise zu rekrutieren. Er solle nicht mehr in die Schule gehen und auch nicht mit der Regierung oder der Polizei zusammenarbeiten. Es habe auch mal Auseinandersetzungen gegeben.

Dies stellt jedoch keine Furcht vor Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1, § 3b AsylG dar. Insbesondere begründet die Gefahr der Zwangsrekrutierung und die Bestrafung einer Person durch körperliche Gewalt infolge der Ablehnung des Rekrutierungsgesuchs der Taliban keine Verfolgung durch einen nichtstaatlichen Akteur wegen einer - wenn auch nur zugeschriebenen - politischen Überzeugung im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG. Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potentiellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

Vorliegend erfolgte die Zurückweisung des Rekrutierungsgesuchs der Taliban durch den Kläger bzw. durch seinen Vater/seinen Onkel jedoch nicht aufgrund einer bestehenden politischen Überzeugung des Klägers im definierten Sinne, sondern vielmehr allein deshalb, weil die Familie den einzigen Sohn nicht hergeben wollte und der Kläger Angst um Leib und Leben gehabt hat und nicht in Kampfhandlungen verwickelt werden wollte. Darüber hinaus erfolgte die stattgefundene Misshandlung des Klägers durch mehrere Taliban-Kämpfer anlässlich des Überfalls auf das Lebensmittelgeschäft des Vaters, bei der sich der Kläger und der Vater des Klägers gegen den Diebstahl von Treibstoff gewehrt hatten. Die Misshandlungen sind gerade nicht wegen einer von diesen Personen zugeschriebenen regierungsfreundlichen und damit ihren Wertvorstellungen entgegenstehenden politischen Überzeugung erfolgt (vgl. VG Leipzig, Urteil vom 29. November 2017 – 1 K 2186/16.A –, Rn. 26, juris). [...]

(2) Darüber hinaus wurde der Kläger auch nicht wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG verfolgt.

Die Gruppe der jungen und wehrfähigen Männer erfüllt nicht die Voraussetzungen einer sozialen Gruppe im Sinne der Qualifikationsrichtlinie. [...]

c) Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG.

Dem Kläger droht in seinem Herkunftsland (Afghanistan) ein ernsthafter Schaden im Sinne von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG). [...]

Der Kläger wäre vor den drohenden konkreten Gefahren durch den Staat nicht hinreichend geschützt. Eine Schutzfähigkeit des Staates vor Übergriffen Dritter ist im Hinblick auf die Verhältnisse im Herkunftsland des Klägers nicht gegeben. Wegen des schwachen Zustands des Verwaltungs- und Rechtswesens bleiben Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan häufig ohne Sanktionen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand März 2013, S. 13 f.). Die nationale Polizei (ANP) wird bei der Durchsetzung von Recht und Gesetz ihrer Aufgabe trotz erster Fortschritte insgesamt noch nicht gerecht. [...]

Für den Kläger besteht ferner keine inländische Fluchtalternative. Selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass er in der Anonymität einer Großstadt wie Kabul keine konkreten Gefahren zu befürchten hätten, wäre zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine interne Schutzmöglichkeit nur besteht, wenn in dem verfolgungsfreien Landesteil für den Ausländer eine ausreichende Existenzgrundlage gegeben ist (vgl. Urteil v. 29.5.2008 – 10 C 11/07 – BVerwGE 131, 186).

Zwar ist der Kläger mit seinen 22 Jahren als volljährig anzusehen. Ferner verfügt er über eine für Afghanistan überdurchschnittliche Schulbildung (11 Schuljahre). Allerdings ist hier vor allem zu berücksichtigen, dass der Kläger in Kabul (oder einer anderen Großstadt) auf seine eigene Kraft und Leistungsfähigkeit zu verweisen wäre. Der Kläger hatte in Afghanistan bei seinen Eltern in L. gelebt und einen Beruf bislang nicht ausgeübt. Eine Berufsausbildung hat er nicht absolviert.

Von einer Unterstützung von in Kabul lebenden Verwandten kann nicht ausgegangen werden. [...]

Ein anderes rechtliches Ergebnis können auch nicht eventuelle Hilfen für den Kläger aus den Rückkehrprogrammen REAG/GARP bzw. ERIN begründen. [...]