OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 08.05.2019 - 18 B 176/19 - asyl.net: M27441
https://www.asyl.net/rsdb/M27441
Leitsatz:

Öffentliches Interesse am Sofortvollzug der Ausweisung eines Strafgefangenen:

1. Die Möglichkeit, durch eine Verkürzung der Strafhaft Kosten zu sparen, begründet ein öffentliches Interesse am Sofortvollzug einer Ausweisung.

2. Bei einer Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen und damit einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung kann auf die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise verzichtet werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ausweisung, spezialpräventive Gründe, Strafhaft, Staatsanwaltschaft, freiwillige Ausreise, Gefahr für die öffentliche Ordnung, Kosten, Haftkosten, fiskalische Interessen,
Normen: AufenthG § 59 Abs. 5 S.1, StPO § 456a,
Auszüge:

[...]

18,19 Angesichts des mit einer Unterbringung im Straf- oder Maßregelvollzug im Vergleich zu dem im Falle eines Leistungsbezugs nach dem SGB II oder XII weit höheren finanziellen Aufwands kommt den solchermaßen bestehenden fiskalischen Interessen an einer Vermeidung der weiteren Vollstreckung der Strafe oder Maßregel ein erhebliches Gewicht zu, das es rechtfertigt, den Rechtsschutzanspruch des Ausländers einstweilen zurücktreten zu lassen (vgl. zum besonderen Vollzugsinteresse im Fall des Absehens nach § 456a StPO: OVG Lüneburg, Beschluss vom 16. Dezember 2011 - 8 ME 76/11 -, OVG Bremen, Beschluss vom 25. März 1999 - 1 B 65/99 -, VGH BW, Beschluss vom 11. Januar 1999 - 11 S 46/99 -, jew. juris). [...]

21 Die Beschwerde bleibt schließlich auch hinsichtlich der Abschiebungsandrohung erfolglos. Dass dem Antragsteller in Ziffer 2 i.V.m. Ziffer 3 der angefochtenen Ordnungsverfügung die Abschiebung in die Türkei unmittelbar aus der Haft heraus ohne Setzen einer Frist zur freiwilligen Ausreise angedroht worden ist, beruht auf § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG. Die Anwendung dieser Norm steht im vorliegenden Fall auch im Einklang mit unionsrechtlichen Vorgaben, insbesondere der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (Rückführungsrichtlinie).

22,23 Bei der Abschiebungsandrohung handelt es sich um eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art 3 Nr. 4 der Richtlinie (vgl. auch BVerwG, Urteile vom 21. August 2018 - 1 C 21.17 -, und vom 29. Mai 2018 - 1 C 17.17 -, jew. juris).

24,25 Insoweit regelt Art. 7 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie im Grundsatz, dass eine Rückkehrentscheidung unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 und 4 eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise vorsieht. In Abweichung hiervon bestimmt Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie: "Besteht Fluchtgefahr oder ist der Antrag auf einen Aufenthaltstitel als offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich abgelehnt worden oder stellt die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit dar, so können die Mitgliedstaaten davon absehen, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, oder sie können eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen einräumen." Die vorliegend allein in Betracht kommende Tatbestandsalternative der Gefahr für die öffentliche Ordnung setzt nach der Rechtsprechung des EuGH voraus, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Hierzu ist das persönliche Verhalten des Drittstaatsangehörigen und die Gefahr, die dieses Verhalten für die öffentliche Ordnung darstellt, im Einzelfall zu prüfen (vgl. EuGH, Urteil vom 11. Juni 2015 - C-554/13 (Z.Zh. und I.O.) - Rn. 50, 57, 60 unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung zu Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38).

26,27 Danach darf zwar ein Mitgliedstaat nach Auffassung des EuGH nicht automatisch auf normativem Weg oder durch die Praxis davon absehen, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, wenn die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Erweist sich aber aufgrund der im Einzelfall vorzunehmenden Prüfung, dass der Betreffende eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, so kann der Mitgliedstaat davon absehen, ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise einzuräumen, sofern sich die Entscheidung unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts und der Grundrechte des Betreffenden (vgl. Erwägungsgrund 2) als verhältnismäßig erweist. Eine erneute Prüfung der Kriterien, die für die Feststellung des Bestehens der Gefahr als maßgeblich erachtet wurden, ist insoweit nicht erforderlich (vgl. EuGH, Urteil vom 11. Juni 2015 - C-554/13 (Z.Zh. und I.O.) - Rn. 73).

28,29 Hiervon ausgehend erweist sich die Abschiebungsandrohung als rechtmäßig. Die verlangte einzelfallbezogene Beurteilung des Bestehens einer von dem Verhalten des Antragstellers ausgehenden tatsächlichen und gegenwärtigen Gefahr für die öffentliche Ordnung folgt aus der aus spezialpräventiven Zwecken erlassenen Ausweisung, die mit der Abschiebungsandrohung verbunden ist (vgl. zur Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG: BVerwG, Urteil vom 27. März 2018 - 1 A 4.17 -, juris Rn. 86). [...]