VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.06.2019 - A 11 S 2108/18 - asyl.net: M27495
https://www.asyl.net/rsdb/M27495
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot für jungen, alleinstehenden, im Iran aufgewachsenen afghanischen Mann: 

"Im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtung und ohne bestehendes familiäres oder soziales Netzwerk sind bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG weiterhin nicht erfüllt, sofern nicht besondere, individuell erschwerende Umstände festgestellt werden können; dies gilt auch für sogenannte "faktische Iraner" (Fortführung der Senatsrechtsprechung, Urteile vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - und vom 12.12.21018 - A 11 S 1923/17 -)."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Iran, Afghanistan, faktischer Iraner, Existenzgrundlage, Existenzminimum, extreme Gefahrenlage, Abschiebungsverbot, junger Mann, alleinstehend, arbeitsfähig, Rückkehrer,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg und ist zurückzuweisen.

Dem Kläger kommt der mit der Berufung noch geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nicht zu. [...]

I. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen hierfür (1.) sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt und derjenigen in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (2.) sowie in Ansehung der persönlichen Situation des Klägers nicht erfüllt (3.).

1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. [...]

Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen. [...]

2. Die relevanten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt: [...]

Geprägt wird das Leben der Menschen im Land - auch unter Berücksichtigung der vom Kläger noch benannten Erkenntnismittel - von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation und Versorgungslage (vgl. hierzu im Einzelnen VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 -, juris Rn. 211-286 (m.w.N.)), außerdem von prekären humanitären Gegebenheiten (vgl. hierzu im Einzelnen VGH Bad.-Württ., a.a.O., Rn. 287-301 (m. w. N.)), sowie von einer anhaltend schlechten Sicherheitslage (vgl. hierzu im Einzelnen VGH Bad.-Württ., a.a.O., Rn. 301-320 (m.w.N.).

Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte, aber auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben (Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; vgl. auch UNHCR-Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan, 30.08.2018, S. 110, insb. Fn. 674). [...]

Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. [...]

Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. [...]

Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. [...]

Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen (Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland).

Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa ("Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär") in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. [...]

Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere, weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden (Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 18).

Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren (zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29). [...]

3. Ausgehend von den Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung gelangte der Senat nicht zu der Überzeugung, dass im Falle des Klägers nach den dargelegten Maßstäben ein ganz außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung im Sinne von Art. 3 EMRK zwingend entgegenstehen.

Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. zuletzt VGH Bad.-Württ., Urteile vom 12.12.2018 - A 11 S 1923/17 -, juris Rn. 104 ff., und vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 -, juris; zuvor etwa auch Urteil vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris), dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtung und ohne bestehendes familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht besondere, individuell erschwerende Umstände festgestellt werden können. Dem entspricht die aktuelle Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte (vgl. OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3930/18.A -, juris Rn. 198 ff.; Bay. VGH, Beschluss vom 29.04.2019 - 13a ZB 19.31492 -, juris Rn. 6; Sächs. OVG, Urteil vom 18.03.2019 - 1 A 348/18.A -, juris Rn. 68 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 29.01.2019 - 9 LB 93/18 -, juris Rn. 55 ff.; siehe auch OVG des Saarlandes, Beschluss vom 20.05.2019 - 2 A 194/19 -, juris Rn. 11).

Der Senat vermochte sich nicht davon zu überzeugen, dass die Bedingungen im Land einschließlich der Risiken für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland generell ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und damit die hohen Anforderungen für eine Verletzung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Ak-teurs erfüllen. [...]

Dies gilt auch im vorliegenden Fall ebenso allgemein (a) wie unter Berücksichtigung individueller Besonderheiten des Klägers (b).

a) Zwar ist die Lage in Kabul prekär. Sowohl die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen als auch die humanitären Umstände und die Sicherheitslage sind schlecht. Zudem sind Afghanistan und insbesondere Kabul gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert.

Obwohl die Situation für Rückkehrer nach alledem schwierig ist, stellt sie sich nicht für alle Betroffenen gleichermaßen problematisch dar. Bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen sind in besonderem Maße gefährdet. Gleiches gilt für Menschen, die als Rückkehrer - typischerweise aus den benachbarten Staaten Iran und Pakistan - häufig in den informellen Siedlungen Kabuls untergekommen und dort nach jüngeren Erhebungen in großer Zahl von gravierender Nahrungsmittelunsicherheit betroffen sind (EASO, Country of Origin Information Report - Afghanistan Security Situation Update, May 2018, S. 33).

Die insoweit erhobenen Daten lassen sich auf die hier relevante Personengruppe alleinstehender männlicher Rückkehrer allerdings nur eingeschränkt übertragen (vgl. hierzu im Einzelnen VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 -, juris Rn. 397 ff. (m. w. N.)). [...]

Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. [...]

b) Dies gilt auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers. [...]

Eine individuelle Verfolgung in Afghanistan macht der Kläger nicht geltend. Doch auch seine persönliche und familiäre Situation begründet kein Abschiebungsverbot, da in der Person des Klägers keine individuell erschwerenden Umstände vorliegen, die für ihn eine reale Gefahr begründen, bei seiner Rückkehr nach Kabul einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein. Gefahrerhöhende Umstände, die etwa in einer realen Verfolgungsgefahr des Klägers gesehen werden könnten, hat der Kläger nicht geschildert. [...] Der Kläger ist ein leistungsfähiger, erwachsener Mann; nach seinen divergierenden Angaben ist er mindestens 19 bzw. 20 Jahre alt. Er hat im Iran in einer Schneiderei gearbeitet. Er hat nach seinem Vortrag im Wesentlichen selbständig seine Ausreise aus dem Iran und die Reise in die Bundesrepublik organisiert. Er sei sogar in der Lage gewesen, von dem geringen Lohn, den er in der Schneiderei verdient habe, so viel zurückzulegen, dass er, zusammen mit weiteren Summen, die hohen Kosten der Reise von etwa 5.000,- Dollar zahlen konnte. Das deutet auf ein nicht unerhebliches Maß an Selbständigkeit, Organisationsgabe und Durchsetzungsfähigkeit hin. [...]

Nichts anderes gilt mit Blick darauf, dass sich der Kläger selbst als "faktischen Iraner" beschreibt, der Afghanistan im Alter von fünf Jahren verlassen, seitdem im Iran gelebt und daher keinerlei Beziehungen mehr zu Afghanistan habe. [...]

II. Ein nationales Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt hier ebenfalls nicht vor. Liegen die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus. [...]