OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 14.08.2019 - 2 B 159/19 - asyl.net: M27584
https://www.asyl.net/rsdb/M27584
Leitsatz:

Keine Berücksichtigung familiärer Bindungen in anderen Schengen-Staaten bei Ausweisung:

1. Das Handeltreiben mit Kokain und Heroin stellt eine hoch gefährliche Straftat dar, bei der keine hohen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls zu stellen sind. Eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nach § 53 Abs. 1 AufenthG ist bereits bei einer moderaten Rückfallwahrscheinlichkeit anzunehmen.

2. Familiäre Bindungen in anderen Staaten des Schengen-Raums sind bei der Interessenabwägung nach § 53 Abs. 2 AufenthG trotz Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht zu berücksichtigen. Denn die Ausschreibung zur Einreiseverweigerung im Schengener Informationssystem (SIS) nach Art. 6 Abs. 1 Bst. d SGK führt nicht zu einem Automatismus, der es anderen Schengen-Staaten europarechtlich unmöglich macht, die Interessen an einem dortigen Aufenthalt in einem eigenen Verfahren zu prüfen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Drogendelikt, Ausweisung, Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Wiederholungsgefahr, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Familienangehörige, Sonstige Familienangehörige, Europäische Union, Bleibeinteresse, Ausweisungsgrund, Rückfallwahrscheinlichkeit, Schengen, Straftat,
Normen: AufenthG § 53 Abs. 1, AufenthG § 53 Abs. 2, EMRK Art. 8 Abs. 2, SGK Art. 6 Abs. 1 Nr. Bst. d,
Auszüge:

[...]

a) Die Ausführungen, mit denen der Antragsteller darzulegen versucht, dass von ihm keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, überzeugen nicht.

Vorwegzuschicken ist diesbezüglich, dass im Fall des Antragstellers bereits eine moderate Rückfallwahrscheinlichkeit für die Annahme genügt, sein Aufenthalt gefährde die öffentliche Sicherheit. Nicht erforderlich ist, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit hoch ist. Für die Feststellung der Wiederholungsgefahr gilt im Ausweisungsrecht ein differenzierender, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (BVerwG, Urt. v. 2.9.2009 – 1 C 2/09 -, NVwZ 2010, 389 [390 – Rn. 17]). Der Antragsteller wurde wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt. Der Gesetzgeber stuft solche Taten als Verbrechen ein (vgl. § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, § 12 Abs. 1 StGB). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkennt die besondere Gefährlichkeit des Drogenhandels an (st. Rspr. des EGMR, vgl. z.B. Urt. v. 12.1.2010 – 47486/06 –, Khan ./. UK, Ziff. 40 - hudoc.echr.coe.int/eng. Unter den vom Antragsteller gehandelten Drogen befanden sich mit Heroin und Kokain besonders gefährliche Substanzen, die bei den Konsumenten schnell zur Abhängigkeit führen (sog. "harte Drogen"). Angesichts dieser hohen Gefährlichkeit seiner Straftaten sind keine hohen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls zu stellen, um eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG zu bejahen. [...]

bb) Des Weiteren weist die Beschwerde darauf hin, dass der Antragsteller in Deutschland geboren wurde, hier bis zu seinem neunten Lebensjahr gelebt und drei Schulklassen in Deutschland besucht hat sowie gut Deutsch spricht.

Dies trifft zu und führt dazu, dass die Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellt. Der Begriff des "Privatlebens" i.S.v. Art. 8 EMRK umfasst die Gesamtheit der sozialen Beziehungen zwischen ansässigen Zuwanderern und der Gesellschaft, in der sie leben (EGMR [GK], Urt. v. 46410/99, 18.10.2006, NVwZ 2007, 1279 [1281 – Rn. 59]; vgl. auch OVG Bremen, Beschl. v. 22.11.2010 - 1 A 383/09 -, juris Rn. 9; Beschl. v. 28.6.2011 - 1 A 141/11 -, juris Rn. 47). Auch das Verwaltungsgericht ging von einem solchen Menschenrechtseingriff aus.

Allerdings ist der Eingriff von der Schranke des Art. 8 Abs. 2 EMRK gedeckt. Die Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers dient dem Schutz eines der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Rechtsgüter, nämlich der Verhütung von Straftaten, und ist in einer demokratischen Gesellschaft notwendig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK, weil sie verhältnismäßig ist. Kriterien für die Verhältnismäßigkeitsprüfung sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet, der Stand der gesellschaftlichen und sozialen Integration (Sprachkenntnisse, Schule/Beruf), das strafrechtlich relevante Verhalten sowie die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betreffenden. Darüber hinaus ist in die Prüfung einzubeziehen, wie die Schwierigkeiten zu bewerten sind, auf die dieser bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat treffen würde. Auch der aufenthaltsrechtliche Status, den der Ausländer bislang besessen hat, kann ein Kriterium sein, das für die Ermittlung des Ausmaßes der Verwurzelung von Relevanz ist (st. Rspr. des Senats, vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 28.6.2011 - 1 A 141/11 -, juris Rn. 48 f. mwN auf die Rspr. des EGMR und des BVerwG). [...]

Die Schwester, die der Antragsteller selbst als seine einzige echte Bezugsperson bezeichnet, wohnt in Österreich. Sie hat daher vorliegend außer Betracht zu bleiben. Gegenstand der Abwägung, die deutsche Behörden und Gerichte im Zusammenhang mit einer Ausweisung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis zu treffen haben, sind die sozialen Bindungen in Deutschland. Soziale Bindungen in Österreich sind dagegen gegenüber den österreichischen Behörden nach dortigem Aufenthaltsrecht geltend zu machen. Soweit der Antragsteller sich darauf beruft, dass das mit der Ausweisung verbundene Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 11 Abs. 1 AufenthG) regelmäßig zu einer Ausschreibung zur Einreiseverweigerung im Schengener-Informationssystem (SIS) führe und damit auch die Einreise nach Österreich sperre (Art. 6 Abs. 1 d) VO (EU) 2016/399), rechtfertigt dies keine andere Betrachtung. Die Ausschreibung zur Einreiseverweigerung im SIS löst nämlich nicht keinen Automatismus aus, der es den österreichischen Behörden unionsrechtlich unmöglich macht, die Interessen des Antragstellers an einem Aufenthalt in Österreich in einem dortigen Verfahren zu prüfen. Die Ausschreibung im SIS hindert nicht die Erteilung eines Aufenthaltstitels oder eines Visums für einen längerfristigen Aufenthalt in Österreich. Die österreichischen Behörden sind lediglich gehalten, die deutschen Behörden vorab zu konsultieren und die Vorgänge, die zur Ausschreibung im SIS geführt haben, zu "berücksichtigen" (vgl. Art. 27 VO (EU) 2018/1861). Auch einem Besuchsaufenthalt in Österreich steht die Ausschreibung im SIS nicht zwingend entgegen. Gemäß Art. 6 Abs. 5 c) VO (EU) 2016/399 könnte Österreich einen solchen Aufenthalt u.a. aus humanitären Gründen gestatten. [...]