VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 24.07.2019 - 1 A 6036/17 - asyl.net: M27636
https://www.asyl.net/rsdb/M27636
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für Person aus Côte d'Ivoire wegen psychischer Erkrankung:

Eine psychische Erkrankung ist in Côte d'Ivoire nicht ausreichend behandelbar, so dass ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt. Selbst wenn die notwendige Behandlung und Medikation zur Verfügung stünden, müssten die Kosten dafür von den Patientinnen und Patienten selbst getragen werden, so dass sie nicht erwerbstätigen Personen ohne familiäre Unterstützung aus finanziellen Gründen nicht zugänglich sind. Wegen der Stigmatisierung psychischer Erkrankungen in Côte d'Ivoire werden psychisch erkrankte Personen häufig versteckt oder sogar ausgesetzt.

(Leitsatz der Redaktion; ähnlich: VG Göttingen, Urteil vom 03.04.2019 - 3 A 212/17 - asyl.net: M27201)

Schlagwörter: Côte d’Ivoire, psychische Erkrankung, medizinische Versorgung, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Versorgungslage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen im maßgeblichen Zeitpunkt der Absetzung der Entscheidung, § 77 Abs. 1 AsyIG, vor. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlimmern würden (§ 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG). Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Mit der durch Art. 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 vorgenommenen Konkretisierung wird klargestellt, dass nur äußerst gravierende Erkrankungen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (vgl. BT-Drs. 18/7538, S. 18). [...]

Zwar begründet eine Selbstmordgefahr, die in Verbindung mit einer bevorstehenden Abschiebung steht, kein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, sondern allenfalls ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, das gemäß § 60a AufenthG gegenüber der Ausländerbehörde geltend zu machen ist (BVerfG, Beschluss vom 26.02.1998 - 2 BvR 185/98 - juris). Das Gericht ist aber davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Elfenbeinküste wegen seiner psychischen Erkrankung alsbald in eine lebensbedrohliche Situation geraten würde.

Bei dem Kläger besteht nach dem nachvollziehbaren fachärztlichen Attest des ... vom ... 2019 eine akute vorübergehende psychotische Störung F 23.8, differentialdiagnostisch auch Traumafolgestörung; eine Psychische- und Verhaltensstörung durch Alkohol: schädlicher Gebrauch F10.1 und eine Psychische- und Verhaltensstörung durch Cannabinoide: schädlicher Gebrauch F 12.1. Der Kläger habe inzwischen drei stationäre psychiatrische Behandlungen im Klinikum Emden gehabt. [...]

Die Erkrankung des Klägers ist zur Überzeugung des Gerichts in der Elfenbeinküste nicht ausreichend behandelbar. Mehr als 75 Prozent der Personen, welche an psychischen Krankheiten leiden, haben keinen Zugang zu Behandlungen und/oder den notwendigen Medikamenten. Für die psychiatrische Versorgung werden weniger als 2 des nationalen Budgets für Gesundheit ausgegeben. Personen, die Hilfe benötigen, können sich nur an sehr wenige Stellen wenden. In der Elfenbeinküste gibt es nur gerade drei Einrichtungen, welche effektiv psychiatrische Behandlungen anbieten: Eine psychiatrische Klinik in Bingerville bei Abidjan, das Institut National de la Santé Publique in Abidjan und eine Einrichtung in Yamoussoukro, welche Patienten ambulant behandelt. Die Behandlungskosten und die Kosten für Medikamente müssen von den Patienten getragen werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Elfenbeinküste: Medizinische Versorgung, Stand: 07.09.2012, S. 5 f.). Hinzu kommt, dass psychisch kranke Personen in der Elfenbeinküste als minderwertig angesehen werden. Die ivorische Gesellschaft ist diesbezüglich nicht sensibilisiert und die Stigmatisierung psychisch Kranker ist sehr ausgeprägt. Dies führt dazu, dass Betroffene von ihren Familien versteckt, auf der Straße ausgesetzt oder in einigen Dörfern sogar angekettet werden. Aufgrund der totalen sozialen Ausgrenzung haben Betroffene nur selten Zugang zu Schutz- und/oder Wiedereingliederungsprogrammen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Elfenbeinküste: Medizinische Versorgung, Stand: 07.09.2012, S. 6). [...]

Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben wird auch hier schon deshalb anzunehmen sein, weil die notwendige Behandlung und Medikation, davon abgesehen, dass sie dem Kläger schon nicht zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (Nds. OVG, Urteil vom 28. Juni 2011 - 8 LB 221/09 -, juris Rn. 27 m.w.N.). Im konkreten Einzelfall des Klägers, der sechs Jahre in der Elfenbeinküste die Schule besucht, keinen Beruf erlernt und auch keine Unterstützung von Verwandten aus dem In- oder Ausland zu erwarten hat, ist bereits ausgeschlossen, dass dieser in Ermangelung entsprechender Vermögenswerte in der Lage sein könnte, die für eine adäquate medizinische Versorgung in der Elfenbeinküste erforderlichen finanziellen Mittel anderweitig aus eigener Kraft - in erster Linie durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit - zu erlangen. Zumal er in Deutschland bereits Unterstützung zum Einkaufen benötigt. Es erscheint daher höchst zweifelhaft, ob er überhaupt erwerbsfähig ist. [...]