OVG Bremen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 18.09.2019 - 1 LA 125/19 - asyl.net: M27665
https://www.asyl.net/rsdb/M27665
Leitsatz:

Keine Verlängerung der Überstellungsfrist im Dublin-Verfahren bei Kirchenasyl:

Asylsuchende sind nicht flüchtig im Sinne der Dublin-Verordnung mit der Folge der Verlängerung der Überstellungsfrist auf 18 Monate, wenn sie sich im Kirchenasyl aufhalten und die Adresse den Behörden mitgeteilt wurde. Denn die Flucht müsste kausal für die Nichtdurchführbarkeit der Überstellung sein; dies ist beim Kirchenasyl nicht der Fall.

(Leitsätze der Redaktion; im Anschluss an: OVG Niedersachsen, Beschluss vom 25.07.2019 - 10 LA 155/19 - asyl.net: M27450, OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.08.2019 - 11 A 2874/19.A - asyl.net: M27574)

Anmerkung:

Schlagwörter: Kirchenasyl, flüchtig, Überstellungsfrist, Fristverlängerung, Berufungszulassungsantrag, Dublinverfahren, Flüchtigsein,
Normen: VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

[...]

Ausgehend hiervon lässt sich die von der Beklagten aufgeworfene Frage ohne weiteres dahingehend beantworten, dass ein Asylbewerber, der sich in ein sog. Kirchenasyl begeben hat, nicht flüchtig i.S.d. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO ist, wenn – wie im Falle des Klägers – seine ladungsfähige Anschrift bekannt ist (sog. offenes Kirchenasyl; ebenso: OVG NRW, Beschl. v. 29.08.2019 – 11 A 2874/19.A, juris Rn. 9 ff.; VGH B.-W., Urt. v. 29.07.2019 – A 4 S 749/19, juris Rn. 123; Nds. OVG, Beschl. v. 25.07.2019 – 10 LA 155/19, juris Rn. 12 ff.; BayVGH, Beschl. v. 16.05.2018 – 20 ZB 18.50011, juris Rn. 2; Schl.-H. OVG, Beschl. v. 23.03.2018 – 1 LA 7/18, juris Rn. 18). Entgegen der Ansicht der Beklagten reicht es für ein "Flüchtigsein" im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO nicht aus, dass sich der Asylbewerber zielgerichtet durch die Änderung seines Aufenthaltsorts dem staatlichen Zugriff zu entziehen versuche, wobei es auch unbedeutend sei, ob dieses Entziehen erfolgreich sei, solange sich der Asylbewerber gezielt in einer Art und Weise verhalte, die seine Überstellung verhindere. Der Europäische Gerichtshof hat, wie sich aus seinen Ausführungen, "wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat", eindeutig ergibt, festgestellt, dass nur derjenige flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO ist, der die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat und dies zur Folge hat, dass die Überstellung nicht durchgeführt werden kann. Die Flucht muss also kausal für die Nichtdurchführbarkeit der Überstellung sein. An einer solchen Kausalität fehlt es aber regelmäßig im Falle des sog. offenen Kirchenasyls (OVG NRW, Beschl. v. 29.08.2019 – 11 A 2874/19.A, juris Rn. 16; Nds. OVG, Beschl. v. 25.07.2019 – 10 LA 155/19, juris Rn. 14). Der Staat ist durch das Kirchenasyl nämlich weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert, die Überstellung durchzuführen. Er verzichtet vielmehr bewusst darauf, das Recht durchzusetzen. Es existiert kein Sonderrecht der Kirchen, aufgrund dessen die Behörden bei Aufnahme einer Person in das sog. Kirchenasyl gehindert wären, eine Überstellung durchzuführen und hierzu gegebenenfalls unmittelbaren Zwang anzuwenden. Dass allein aufgrund des Kirchenasyls rechtliche oder tatsächliche Hindernisse einer Überstellung des Betroffenen – hier des Klägers – entgegenstehen könnten, hat die Beklagte im Zulassungsverfahren im Übrigen selbst nicht behauptet. [...]