OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 19.08.2019 - 4 A 205/19.A - asyl.net: M27809
https://www.asyl.net/rsdb/M27809
Leitsatz:

Ablehnung des Berufungszulassungsantrags einer jungen Venezolanerin gegen die Abweisung ihrer Klage auf Zuerkennung eines Abschiebungsverbots:

1. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung liegt nicht vor. Aus den im Zulassungsvorbringen genannten Berichten ergibt sich nicht, dass die prekäre Lage bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Medikamenten anders sei als vom VG angenommen, insbesondere dass eine erhebliche Verschlechterung eingetreten sei.

2. Auch der Zulassungsgrund eines Verfahrensfehlers ist nicht hinreichend dargelegt. Die Ablehnung der Beweisanträge der Klägerin auf Einholung eines medizinischen Gutachtens zu ihren Erkrankungen sowie von Auskünften des Auswärtigen Amts zu deren Behandelbarkeit in Venezuela und der Rückkehrsituation junger Frauen stellt keine Verletzung rechtlichen Gehörs dar.

a. Die Klägerin ist nach § 86 Abs. 1 S. 1 HS 2 VwGO selbst verpflichtet an der Erforschung des Sachverhalts durch Vorlage eines den Anforderungen entsprechenden ärztlichen Attests mitzuwirken. Das VG musste den unterbliebenen Sachvortrag der Klägerin nicht durch ein Sachverständigengutachten ersetzen, da die vorgelegten Atteste nicht den Anforderungen von § 60a Abs. 2c AufenthG entsprechen und der Beweisantrag daher nicht entscheidungserheblich war. Die Anforderungen an ein ärztliches Attest gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG gelten für den Nachweis eines krankheitsbedingten Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG entsprechend.

b. Das Gericht kann auf Einholung einer Auskunft des Auswärtigen Amts verzichten, wenn es bereits über eine ausreichende Sachkunde verfügt, die sich auch aus der Gerichtspraxis ergeben kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Anmerkung:

Schlagwörter: Venezuela, rechtliches Gehör, Beweisantrag, Beweiserhebung, Frauen, Existenzminimum, Existenzgrundlage, Berufungszulassungsantrag, Darlegungslast, Abschiebungsverbot, Krankheit, Grundsätzliche Bedeutung, Verfahrensfehler, medizinische Versorgung, Versorgungslage, Sachverständigengutachten, Sachaufklärungspflicht, Attest, Behandelbarkeit, Rückkehr, Rückkehrgefährdung, Mitwirkungspflicht, eigene Sachkunde,
Normen: AsylG § 4, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, EMRK Art. 3, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, AsylG § 78 Abs. 4 S. 4, AufenthG § 60a Abs. 2c, AsylG Abs. 3 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

3 Der Antrag der Klägerin mit dem Ziel, die Berufung zuzulassen, soweit das Verwaltungsgericht die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG und die hilfsweise begehrte Feststellung von Abschiebungshindernissen versagt hat, hat keinen Erfolg. Ihr Vorbringen, auf dessen Prüfung der Senat beschränkt ist (§ 78 Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 1 AsylG) ergibt nicht, dass der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) oder ein Verfahrensfehler (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG) vorliegt. [...]

5 Diesen Anforderungen entspricht das Zulassungsvorbringen der Klägerin nicht. Sie hält die Frage für grundsätzlich bedeutsam, ob zum aktuellen Zeitpunkt insbesondere für junge, weibliche Rückkehrer in Venezuela die Möglichkeit besteht, eine ausreichende Lebensgrundlage, bestehend aus Lebensmittelversorgung, Medikamentenversorgung, Unterkunftsversorgung und Arbeitsplatzangebot, zu finden, die einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung genügt, insbesondere wenn gefahrenerhöhend hinzutritt a), dass keine Unterstützung (finanziell; mit Wohnraum, Arbeit, Medikamenten) seitens der Familie im Heimatland zu erwarten ist, und b), dass die Leistungsfähigkeit der Person durch Krankheiten erheblich eingeschränkt ist, so dass nicht zu erwarten ist, diese Person werde einer geregelten Arbeit zur Lebensunterhaltsfinanzierung nachgehen. Die Klägerin macht geltend, die in der Fragestellung formulierten Umstände träfen auf sie zu. Das Verwaltungsgericht habe sich in seiner Entscheidung auf veraltete Erkenntnisquellen aus Juli 2017 sowie Mai 2018 bezogen. Die aktuelle Lage in Venezuela habe sich in den letzten Monaten erheblich zu Lasten der Bevölkerung verschlechtert. Dies ergebe sich aus den Reise- und Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amts vom 4. Februar 2019, einem Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. Mai 2018 sowie einem Artikel aus dem Tagesspiegel vom 27. Januar 2019. Danach werde die Ausgabe von Grundnahrungsmitteln durch den venezolanischen Staat an die Bevölkerung als Kontrollinstrument für Regierungstreue genutzt. Zudem werde wegen der Korruption im Land mehr als die Hälfte der von der Regierung eingekauften Lebensmittelpakte nicht an die Bevölkerung ausgegeben. Es entspreche daher nicht der aktuellen Lage, dass die Landbevölkerung durch staatliche Unterstützungen mit Grundnahrungsmitteln am Leben gehalten werde.

6 Das Verwaltungsgericht hat sich zur Begründung seiner Entscheidung zum Nichtvorliegen von Abschiebungshindernissen für Venezuela auf Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amts und des Eidgenössischen Departements für Auswärtige Angelegenheiten, auf Stellungnahmen des Auswärtigen Amts und des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, von Human Rights Watch und Amnesty International sowie verschiedene Presseberichte aus den Jahren 2017 und 2018 bezogen. Aus diesen geht zusammenfassend hervor, dass Nahrungsmittel knapp und die Lebensmittellage prekär seien und die Teuerungsrate für Lebensmittel weiter steige. Internationale Organisationen warnten vor einer humanitären Krise, es bestünden Versorgungsschwierigkeiten bzw. ein Versorgungsnotstand bei Gütern des täglichen Bedarfs und Medikamenten, die über längere Zeit nicht verfügbar seien. Der Mangel an Nahrungsmitteln gehe vorwiegend zu Lasten von besonders hilfsbedürftigen Personen. Da die Klägerin über die von ihr behaupteten nicht schwerwiegenden Krankheiten hinaus keine gefahrenerhöhenden Umstände geltend machen könne, zähle sie nicht zu dem besonders hilfsbedürftigen Teil der Bevölkerung; ihre Grundversorgung mit Nahrungsmitteln sei gewährleistet. Eine hiervon möglicherweise abweichende Beurteilung der Lage legt die Klägerin durch Bezugnahme auf den Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. Mai 2018 nicht dar. In Bezug auf die Lebensmittelversorgung ist dort - in Übereinstimmung mit den vom Verwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnismitteln - angegeben, viele Venezolaner gäben ihr ganzes Geld für Lebensmittel aus. Das Essen reiche trotzdem kaum aus. Die Regierung nutze die wachsende Not als Druckmittel. In dem von der Klägerin vorgelegten Bericht des Tagesspiegels vom 27. Januar 2019 wird die Korruption in Venezuela u. a. in Zusammenhang mit der Nahrungsmittelversorgung thematisiert. Aus diesen Berichten ergibt sich nicht, dass sich die - ohne Zweifel sehr prekäre - Lage in Bezug auf die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Medikamenten in Venezuela anders darstellen könnte als vom Verwaltungsgericht angenommen, namentlich, dass seither eine erhebliche Verschlechterung eingetreten ist.

7 2. Der Zulassungsgrund eines Verfahrensfehlers in Form der Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO) ist nicht hinreichend dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG). Die Klägerin zeigt mit ihrem Zulassungsvorbringen nicht auf, dass die Ablehnung ihrer in der mündlichen Verhandlung vom 6. Dezember 2018 gestellten Beweisanträge sie in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt hat. [...]

9 Die Klägerin hatte eine Beweiserhebung durch medizinisches Sachverständigengutachten zu einer bei ihr vorliegenden neurologischen sowie einer Darmerkrankung beantragt, sowie durch Einholung einer Auskunft des Auswärtigen Amts, dass diese Erkrankungen aktuell in Venezuela nicht behandelbar bzw. nicht bezahlbar seien. Ferner hat sie die Einholung einer Auskunft des Auswärtigen Amts zur Rückkehrersituation junger Frauen, insbesondere zu deren Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten und Wohnraum beantragt. [...]

11 2.1. Denn das Verwaltungsgericht hat zusätzlich ausgeführt, die Klägerin sei wegen der von ihr beantragten Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zu ihrem Gesundheitszustand gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO selbst verpflichtet, an der Erforschung des Sachverhalts, hier durch Vorlage eines den Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung entsprechenden ärztlichen Attests, mitzuwirken. Dies ist im Ergebnis rechtlich nicht zu beanstanden. Nach § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO hat zwar das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und ist dabei grundsätzlich weder an das tatsächliche Vorbringen der Beteiligten noch an ihre Beweisanträge gebunden (§ 86 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Der Amtsermittlungsgrundsatz wird jedoch, wie sich aus § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO ergibt, durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten in der Weise begrenzt, dass das Gericht nicht in Ermittlungen einzutreten braucht, die durch das Vorbringen der Beteiligten nicht veranlasst sind (vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 16. Oktober 1984 - 9 C 558.82 -, juris Rn. 9; OVG Hamburg, Urt. v. 2. Juli 2018 - 3 Bf 153/15 -, juris Rn. 59, jeweils m. w. N.). Das Verwaltungsgericht war hier nicht gehalten, den unterbliebenen Sachvortrag der Klägerin durch ein Sachverständigengutachten zu ersetzen, weil sowohl der mit Schriftsatz vom 5. Dezember 2018 erstmals vorgelegte ärztliche Bericht vom ... 2017 über eine Behandlung der Klägerin wegen eines Migräneanfalls als auch der in der mündlichen Verhandlung übergebene Arztbericht vom ... 2018 nebst Überweisungsscheinen zur weiteren Aufklärung der geltend gemachten neurologischen Erkrankung sowie der Darmerkrankung nicht den Anforderungen von § 60a Abs. 2 c AufenthG entsprechen und der Beweisantrag daher nicht entscheidungserheblich war.

12 Die Anforderungen an ein ärztliches Attest gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG gelten für die Substantiierung der Voraussetzungen eines krankheitsbedingten Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG entsprechend. Dies ergibt sich ohne Weiteres aus dem Wortlaut des Gesetzes, der Entstehungsgeschichte und der Erwägung des Gesetzgebers, dass er mit den Regelungen in dem mit dem Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl I S. 390) eingeführten Absatz 2c des § 60a AufenthG im Wesentlichen die ohnehin bereits bestehende Rechtsprechung zu den Anforderungen an eine substantiierte Geltendmachung krankheitsbedingter Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Anschluss an die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. September 2007 (- 10 C 8.07 -, juris Rn. 15 = BVerwGE 129, 251) nachvollzogen hat (vgl. BT-Drs. 18/7538, S. 19). Der Wortlaut des § 60a Abs. 2c AufenthG stellt ausschließlich darauf ab, ob Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen vorliegen, und differenziert nicht zwischen inlands- und zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten. Zwar lässt die Begründung zur Einführung des § 60a Abs. 2c und 2d AufenthG erkennen, dass der Gesetzgeber mit diesen Regelungen die Anforderungen an die Geltendmachung namentlich psychischer Erkrankungen  als Abschiebungshindernis insgesamt erschweren wollte; dies bedeutet angesichts des Wortlauts der Vorschriften allerdings nicht, dass die Regelung auf solche Krankheiten beschränkt ist. Schließlich umfasst die Regelung in § 60a Abs. 2c und 2d AufenthG auch nach ihrem Sinn und Zweck die Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 AufenthG. Es ist demnach Aufgabe des Verwaltungsgerichts zu überprüfen, ob die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen den gesetzlichen Anforderungen entsprechen. Die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens ist insoweit nicht erforderlich (vgl. BayVGH, Beschl. v. 26. April 2018 - 9 ZB 18.30178 -, juris Rn. 6 ff.). [...]

14 [...] Das Gericht kann auf die Erhebung eines Sachverständigengutachtens, hier in Gestalt einer sachkundigen Auskunft des Auswärtigen Amts, verzichten, wenn es bereits über eine ausreichende eigene Sachkunde verfügt, wobei es darzulegen hat, dass und weshalb es über diese Sachkunde verfügt. Diese Sachkunde kann sich - zumal in Asylverfahren - auch aus der Gerichtspraxis, namentlich aus der Verwertung bereits vorliegender Erkenntnismittel, ergeben. Wie konkret der Nachweis der eigenen Sachkunde des Gerichts zu sein hat, hängt aber von den Umständen des Einzelfalls, insbesondere den jeweils in tatsächlicher Hinsicht in dem Verfahren in Streit stehenden Einzelfragen ab (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19. September 2001 - 1 B 158.01 -, juris Rn. 10 = Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 315; Rixen, in: Sodan / Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 86 Rn. 106 ff.). [...]