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Zitieren als:
BSG, Urteil vom 27.02.2019 - B 7 AY 1/17 R - asyl.net: M27884
https://www.asyl.net/rsdb/M27884
Leitsatz:

Keine Leistungskürzungen während des laufenden Asylfolgeverfahrens:

Während eines laufenden Asylfolgeverfahrens ist die fehlende Mitwirkung bei der Passbeschaffung nicht allein ursächlich für die Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen und eine Kürzung der Asylbewerberleistungen daher rechtswidrig.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylfolgeantrag, Wiederaufnahmeantrag, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungskürzung, Anspruchseinschränkung, Mitwirkungspflicht, Rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer, Kausalität,
Normen: AsylbLG § 1a, AsylG § 71
Auszüge:

[...]

26 Die Frage nach einem Fehlverhalten des Leistungsberechtigten als (alleinige) Ursache für die Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen ist (entgegen der Auffassung des LSG) mit bereits vorliegenden ausländerrechtlichen Entscheidungen zwingend verknüpft, soweit deren "Tatbestandswirkung" reicht. Die Tatbestandswirkung in dem so verstandenen Sinne - oder auch die "Beachtlichkeit" eines Verwaltungsakts (vgl. Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl 2014, § 43 RdNr. 140 und 154 m.w.N.; zu den verschiedenen Begrifflichkeiten auch Kopp/Ramsauer, VwVfG, 14. Aufl 2013, § 43 RdNr. 17) - hat zum Inhalt, dass die durch den Verwaltungsakt für einen bestimmten Rechtsbereich getroffene Regelung als gegeben hingenommen werden muss, mithin dass der Bescheid mit dem von ihm in Anspruch genommenen Inhalt von allen rechtsanwendenden Stellen zu beachten und eigenen Entscheidungen zugrunde zu legen ist (stRspr; vgl. etwa BVerwG vom 10.10.2006 - 8 C 23/05 - Buchholz 428 § 1 Abs. 2 VermG Nr. 35 = juris RdNr. 22 m.w.N.). Wenn wegen eines bestimmten Sachverhalts (hier der Krankheit des Klägers und deren Behandelbarkeit in Aserbaidschan) durch das BAMF eine negative Feststellung bezogen auf ein daraus resultierendes Abschiebungshindernis getroffen worden ist, die im Verhältnis zu den für den Vollzug der Ausreise zuständigen Behörden bindend ist (vgl. § 42 Satz 1 AsylG), darf dies bei Prüfung der Kausalität im Rahmen des § 1a AsylbLG a.F. nicht unbeachtet bleiben. Soweit sich der Leistungsempfänger auf die Gefahr für Leib und Leben im Falle seiner Abschiebung in den Zielstaat beruft, ist bei der Prüfung der Kausalität nämlich mitentscheidend, ob ein solches (behauptetes) Abschiebungshindernis im Verhältnis zu den Behörden, denen die Durchführung der Abschiebung obliegt, tatsächlich durchgreifen kann. So liegt der Fall hier. Das BAMF (Bescheid vom 7.3.2005) und ihm folgend das VG Osnabrück (Urteil vom 12.9.2005) haben das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses wegen der Hepatitis C-Erkrankung rechtskräftig verneint. Die Bestandskraft der vorangegangenen Entscheidung des BAMF über das Nichtvorliegen eines Abschiebungshindernisses wegen dieser Erkrankung war mit Stellung des Folgeschutzantrags am 13.11.2006 (noch) nicht beseitigt und deshalb vom Beklagten bei seiner Entscheidung nach § 1a AsylbLG zu beachten.

27 Die Verletzung der Mitwirkungspflichten bei der Beschaffung eines Passes oder Passersatzes war seit Stellung des Folgeschutzantrags aber nicht mehr kausal für die Nichtdurchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen. Im Anwendungsbereich des § 1a Nr. 2 AsylbLG aF ist das Erfordernis der Kausalität nur erfüllt, wenn keine außerhalb des Verantwortungsbereichs des Leistungsberechtigten liegenden Sachverhalte mitursächlich für den Nichtvollzug der Abschiebung sind (vgl. Oppermann in jurisPK-SGB XII, § 1a AsylbLG RdNr. 68, Stand 11.2.2019). Nur in den Fällen eines Fehlverhaltens des Leistungsberechtigten, das monokausal für seine Nichtabschiebung ist, ist die Gewährung von auf das unabweisbar Gebotene beschränkter Leistungen verfassungsgemäß und verstößt die damit verbundene Einschränkung im Einzelfall insbesondere nicht gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip (dazu bereits BSG vom 12.5.2017 - B 7 AY 1/16 R - BSGE 123, 157 = SozR 4-3520 § 1a Nr. 2, RdNr. 37). Hier hat die Ausländerbehörde des Beklagten in Ansehung des erneuten Folgeschutzantrags Abschiebungsmaßnahmen aber faktisch ausgesetzt. Dies lässt die Kausalität des Verhaltens des Klägers für die Nichtdurchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen unabhängig vom Ausgang des anschließenden verwaltungsgerichtlichen Verfahrens über den Folgeschutzantrag entfallen.

28 Bei der Beurteilung der Kausalität ist die Bedeutung von (bestands- bzw. rechtskräftigen) Entscheidungen der für die Durchführung des AsylG und AufenthG zuständigen Stellen von der Kompetenz des Trägers der Leistungen nach dem AsylbLG, einen bestimmten Sachverhalt im Rahmen der leistungsrechtlichen Vorschriften eigenständig zu überprüfen, zu unterscheiden. Die "Tatbestandswirkung" oder auch die "Beachtlichkeit" des Verwaltungsakts des BAMF vom 7.3.2005 erstreckt sich ausschließlich auf die Beurteilung der klägerischen Erkrankung als Abschiebungshindernis. Andere Sachverhalte, die neben das Fehlverhalten des Leistungsberechtigten als Ursache für den Nichtvollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen treten und die die notwendige Kausalität entfallen lassen, sind dagegen unabhängig von der Tatbestandswirkung bzw. Beachtlichkeit des Bescheids vom 7.3.2005 von den Trägern der Leistungen nach dem AsylbLG und den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eigenständig zu überprüfen und setzen nicht voraus, dass das BAMF oder die Gerichte (in Abkehr einer früheren bestandskräftigen Entscheidung) das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG zunächst positiv feststellen.

29 Der Tatbestand des § 1a AsylbLG verlangt weder zugunsten noch zulasten des Leistungsberechtigten, dass über relevante Vorfragen aus dem Asyl- und Ausländerrecht eine Entscheidung von den Asyl- oder Ausländerbehörden getroffen worden ist. Im Gegensatz zur Leistungsberechtigung, die das Gesetz auf der Tatbestandsseite ua an den Besitz bestimmter aufenthaltsrechtlicher Titel nach dem AufenthG knüpft (dazu BSG vom 2.12.2014 - B 14 AS 8/13 R - BSGE 117, 297 = SozR 4-4200 § 7 Nr. 41), ist bei der Frage nach der Kausalität im Tatbestand des § 1a AsylbLG aF ein Verwaltungsakt der zuständigen Behörde über das Bestehen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG deshalb nicht Voraussetzung (Tatbestandsmerkmal) für das Absehen von einer Beschränkung von Ansprüchen. Die Frage nach der alleinigen Kausalität eines Fehlverhaltens kann und muss von den Trägern des AsylbLG und den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit also auch dann beantwortet werden, wenn Entscheidungen der für die Durchführung des AsylG und des AufenthG zuständigen Behörden in Würdigung eines bestimmten (ggf. hinzugetretenen) Sachverhalts (noch) nicht vorliegen.

30 Ein Sachverhalt, bei dem die (zunächst bestehende) Kausalität des missbilligten Verhaltens des Leistungsberechtigten für die Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen entfällt, liegt hier vor; denn nach den vom LSG geschilderten Gesamtumständen hat die Ausländerbehörde nach Stellung des Folgeschutzantrags an der Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen für die Dauer des Verfahrens nicht mehr festgehalten. Hierzu war sie zwar nicht auf Grundlage eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens vom VG verpflichtet worden. Auch bei faktischer Aussetzung der Abschiebung - etwa weil ein Bescheid über das Nichtbestehen eines zielstaatsbezogenen Hindernisses angefochten ist oder auch während der Verbüßung einer Strafhaft im Inland - kommt es für die Kausalität i.S. des § 1a AsylbLG aF auf die Tatbestandswirkung eines negativen Bescheids über ein Abschiebungshindernis nicht mehr entscheidend an. Das Ziel der Absenkung von Leistungen auf Grundlage von § 1a Nr. 2 AsylbLG aF beschränkt sich auf die rechtsmissbräuchliche Inanspruchnahme von Leistungen im Einzelfall; dem Gesetz ist dagegen nicht die Wertung zu entnehmen, für die gesamte Personengruppe der "nur" geduldeten Ausländer komme per se nur eine abgesenkte Leistung in Betracht (vgl. BSG vom 12.5.2017 - B 7 AY 1/16 R - BSGE 123, 157 = SozR 4-3520 § 1a Nr. 2, RdNr. 32 f). Deshalb setzt die Absenkung wegen Verletzung der Mitwirkungspflichten bei der Beschaffung eines Passes oder Passersatzes ein ernsthaftes Bestreben der Ausländerbehörde voraus, den Leistungsberechtigten in sein Heimatland zurückzuführen (vgl. zu § 1a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG nF Oppermann, a.a.O., § 1a AsylbLG RdNr. 76). Gibt die Ausländerbehörde aber ihrerseits im Einzelfall zu erkennen, dass sie trotz vollziehbarer Ausreisepflicht in Erwartung einer (erneuten) gerichtlichen Klärung von Abschiebungshindernissen auf solche Maßnahmen verzichtet, fehlt es an der notwendigen Kausalität für die Leistungsabsenkung. [...]