VG Greifswald

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Zitieren als:
VG Greifswald, Urteil vom 20.11.2019 - 3 A 702/19 HGW - asyl.net: M27893
https://www.asyl.net/rsdb/M27893
Leitsatz:

Kein Widerruf des Abschiebungsverbots wegen zwischenzeitlich eingetretener Volljährigkeit für einen jungen Mann aus Afghanistan:

Personen, die nur bis zum 13. Lebensjahr in Afghanistan gelebt haben und sich insbesondere in der Jugend nicht in einem muslimisch geprägten Land aufgehalten haben, sind mit einem erhöhten Gefährdungspotenzial bei einer Rückkehr behaftet. Sie würden sich in der afghanischen Gesellschaft nur schwer zurechtfinden und wären ohne sozialen und familiären Rückhalt kaum in der Lage, sich eine Existenz aufzubauen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungsverbot, Volljährigkeit, Widerruf, Gefährdungspotenzial, junge Männer,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, AsylG § 73c Abs. 2,
Auszüge:

[...]

b. Nach diesem Prüfungsmaßstab erweist sich der Widerruf des festgestellten Abschiebungsverbotes als rechtswidrig.

Auf die Tragfähigkeit des von der Beklagten in den Vordergrund gestellten Widerrufsgrundes, dass der Kläger nunmehr volljährig und nicht mehr auf den Familienverband angewiesen sei, kommt es danach letztlich nicht an. Denn das Gericht geht hier davon aus, dass zugunsten des Klägers die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG, dessen Vorliegen der Rechtmäßigkeit des Widerrufsbescheides gleichermaßen begründen würde, erfüllt sind. [...]

Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK kann sich auch aus einer auf eine Bevölkerungsgruppe bezogenen extremen Gefahrenlage ergeben, welche aus schlechten humanitären Bedingungen folgt, vgl. BVerwG, Urt. v. 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, juris Rn. 23 sowie Urt. v. 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, juris Rn. 25; jeweils unter Bezugnahme auf EGMR, Urt. v. 21.01.2011 - Nr. 30696/06 - (M.S.S. gegen Belgien und Griechenland). [...]

Die humanitäre Lage Afghanistan stellt sich nach den Erkenntnissen des Gerichts derzeit wie folgt dar: Die wirtschaftliche Lage Afghanistans ist schwierig und insbesondere durch die instabile Sicherheitslage, den Abzug der internationalen Streitkräfte und Naturereignisse negativ beeinträchtigt (vgl. SFH, Afghanistan: Update - Die aktuelle Sicherheitslage, 9/2017, S. 27 f.). Dennoch hat Afghanistan seit dem Jahr 2002 mit Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wichtige Fortschritte beim Wiederaufbau seiner Wirtschaft erzielt (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Afghanistan, Stand 06/2019, S. 357). [...]

Obwohl in der Vergangenheit zahlreiche neue Arbeitsplätze entstanden sind und die afghanische Regierung bemüht ist, die Schaffung nachhaltiger Arbeitsplätze zu unterstützen
und das Wirtschaftswachstum voranzutreiben (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Afghanistan, Stand 06/2019, S. 359 sowie EASO a.a.O., S. 25), gelten etwa 40 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung als arbeitslos oder unterbeschäftigt (vgl. BFA a.a.O., S. 358). [...]

Kabul ist das Hauptzentrum der von Handel und Beschäftigung und zieht auch Personen aus den umliegenden Provinzen an. [...]

Herausfordernd wirkt die - vor allem im ländlichen Bereich - häufig nur eingeschränkt vorhandene Infrastruktur. Das betrifft auch die Versorgung mit Energie, Trinkwasser und Transport (vgl. Auswärtiges Amt a.a.O., S. 25). [...]

Wenngleich sich der Zustand des Gesundheitssystems und die Gesundheitsversorgung in den letzten Jahren erheblich verbessert haben (vgl. dazu Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Afghanistan, Stand 06/2019, S. 362 ff.), ist die unzureichende Versorgung mit Medikamenten und ausreichend qualifiziertem Personal nach wie vor prägend (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 23).

Dem Phänomen, dass sich die Versorgungslage auf Grund der zunehmenden Anzahl von Binnenvertriebenen und der hohen Anzahl der aus dem Ausland zurückkehrenden Personen (etwa 610.000 im Jahr 2017, vgl. Auswärtiges Amt a.a.O., S. 28) insgesamt verschärft hat und zu einer Anspannung im Bereich der Versorgung mit Wohnungen und zu einer Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt führt (vgl. UNHCR, Stellungnahme an das Bundesministerium des Innern, 12/2016, S. 4/7), tritt die afghanische Regierung durch Umsetzung des Aktionsplans für Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge entgegen. [...]

Angesichts der beschriebenen Lage geht das Gericht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass nicht jeder Rückkehrer aus Europa unmittelbar in eine extreme Gefahrenlage geraten wird. Daran hält das Gericht auch ausdrücklich fest. Allerdings ist dabei nicht zu verkennen, dass es Personengruppen mit einem erhöhten Gefährdungspotenzial gibt. Amnesty International (vgl. Stellungnahme an das VG Leipzig zur Situation von Rückkehrern vom 08.01.2018, S. 13 ff.) führt aus, dass Personen, die Afghanistan als Kinder verlassen haben und in die Nachbarländer gezogen sind oder sich im westlichen Ausland aufgehalten haben, mit den kulturellen Gepflogenheiten nicht vertraut seien und wegen ihrer Sprache, ihrer Kleidung und ihres Verhaltens leicht zu erkennen seien. Ihnen werde mit Argwohn und Skepsis begegnet. Diese führe zur sozialen Ausgrenzung und Stigmatisierung. Diesen  Personen fehle deshalb der Zugang zu den sozialen Netzwerken, die eine Schutzfunktion hätten. Das führe zu erheblichen Schwierigkeiten beim Finden von Unterkunft und Arbeit. [...]

Der Kläger gehört zu einer Personengruppe, die mit einem erhöhten Gefährdungspotential behaftet ist. Der Kläger ist zwar in Afghanistan geboren, allerdings hat er dort nur bis zu seinem 13. Lebensjahr mit seiner Familie gewohnt. Der Kläger ist mit seiner Familie Ende 2013 aus Afghanistan ausgereist und lebt hier seit April 2014. Für besonders bedeutsam hält es das Gericht, dass der Kläger in der für die Persönlichkeitsentwicklung prägenden Lebensphase seiner Jugend sich weder in Afghanistan noch in einem anderen muslimisch geprägten und religiös-kulturell wenigstens verwandten Land aufgehalten hat. Das Gericht geht daher davon aus, dass der Kläger keine Kenntnisse mehr von den örtlichen Verhältnissen in Afghanistan hat. [...] Auf aufnahmebereite Verwandte oder andere Kontakte kann er mithin nicht zurückgreifen. Die Aufnahme- und Unterbringungssituation des Klägers in Afghanistan ist damit völlig ungeklärt. Wie es dem Kläger vor dem Hintergrund der ohnehin angespannten Wohnungs- und Arbeitsmarktlage gelingen soll, völlig auf sich allein gestellt, zeitnah Obdach und Arbeit zu finden und seinen nötigsten Lebensunterhalt zu bestreiten, vermag das Gericht nicht zu erkennen. [...]