VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Beschluss vom 10.12.2019 - 10 L 336/19.A - asyl.net: M27915
https://www.asyl.net/rsdb/M27915
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz bei Ablehnung eines Asylfolgeantrags als unzulässig:

"1. Der vorläufige Rechtsschutz gegen einen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, mit dem ein Folgeantrag ohne Erlass einer (weiteren) Abschiebungsandrohung als unzulässig abgelehnt wird, richtet sich nicht nach § 80 Abs. 5 VwGO, sondern nach § 123 Abs. 1 VwGO.

2. Die verfahrensrechtliche Ausgestaltung eines gegen die Ablehnung eines Folgeantrags als unzulässig gerichteten verwaltungsgerichtlichen Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Anordnung steht mit Unionsrecht in Einklang.

3. Es steht mit Unionsrecht, namentlich der Richtlinie 2008/115/EG in Einklang im Falle der Ablehnung eines Folgeantrags als unzulässig vom erneuten Erlass einer Abschiebungsandrohung sowie der erneuten Setzung einer Ausreisefrist abzusehen.

4. Dass ein Asylsuchender im Falle der Ablehnung seines Folgeantrags als unzulässig bereits vor dem rechtskräftigen Abschluss eines von ihm gegen diese Entscheidung eingeleiteten Klageverfahrens abgeschoben werden darf, steht ebenfalls mit Unionsrecht in Einklang.

5. Das aus dem Unionsrecht folgende Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf bezieht sich in Verfahren, in denen ein Folgeantrag als unzulässig abgelehnt wird, ebenso wie bei der Ablehnung eines Asylerstantrags als offensichtlich unbegründet oder der Ablehnung eines Zweitantrags (§ 71a AsylG) nicht auf die Klage, sondern allein auf den Eilantrag.

6. Das durch Art. 46 Abs. 8 RL EU 2013/32/EU gewährte beschränkte Bleiberecht steht dem Asylsuchenden nicht nur für die Dauer des Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu. Vielmehr ist ihm auch eine angemessene Frist für die Stellung eines solchen Antrags einzuräumen.

7. Den unionsrechtlichen Vorgaben ist durch eine erweiternde Auslegung der §§ 71 Abs. 4, 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG sowie eine analoge Anwendung dieser Bestimmungen auf Anträge nach § 123 Abs. 1 VwGO Rechnung zu tragen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Asylfolgeantrag, Unzulässigkeit, vorläufiger Rechtsschutz, Ausreisefrist, Abschiebungsandrohung, Bleiberecht, Rückkehrentscheidung, Rechtsweggarantie,
Normen: AsylG § 71a, VwGO 123, VwGO 80 Abs. 5, RL EU 2013/32/EU Art. 46 Abs. 8 RL EU 2013/32/EU, AsylG § 71 Abs. 4, AsylG § 36 Abs. 3 S. 8, GG Art. 19 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Erlässt das Bundesamt keine weitere Abschiebungsandrohung, wird auch keine neue Ausreisefrist gesetzt, so dass der Klage gemäß §§ 75 Abs. 1, 38 Abs. 1 AsylG ebenfalls keine aufschiebende Wirkung zukommt. Auch in diesem Fall kann der Asylsuchende die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Bundesamts in einem Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gerichtlich überprüfen lassen. Der vorläufige Rechtsschutz richtet sich in diesem Fall jedoch - wie bereits unter 2. dargelegt - nicht nach §§ 71 Abs. 4, 36 Abs. 3 AsylG, 80 Abs. 5 VwGO, sondern nach § 123 Abs. 1 VwGO. Eine Antragsfrist oder eine §§ 71 Abs. 4, 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG entsprechende Regelung sind für das Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO gesetzlich nicht vorgesehen.

(2) Das vorstehend dargestellte Regelungskonzept steht mit Unionsrecht in Einklang.

(a) Dass § 71 Abs. 1 AsylG die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens an das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 VwVfG knüpft, steht mit der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 60, sog. Verfahrensrichtlinie, im Folgenden: RL 2013/32/EU) im Einklang. Diese Richtlinie findet gemäß Art. 52 Unterabs. 1 RL 2013/32/EU auf den vorliegenden Fall Anwendung, weil der streitgegenständliche Folgeantrag am 1. Februar 2019 und damit nach dem dort bestimmten Stichtag (20. Juli 2015) gestellt wurde. [...]

(b) Dass das Bundesamt gemäß § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG vom erneuten Erlass einer Abschiebungsandrohung abgesehen hat, ist unionsrechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden [(aa)]. Grundlage für eine Abschiebung des Antragstellers ist weiterhin die im Bescheid vom 30. März 2016 enthaltene Abschiebungsandrohung. Diese Abschiebungsandrohung hat sich zwischenzeitlich nicht erledigt [(bb)]. [...]

(c) Dass ein Asylsuchender im Falle der Ablehnung seines Folgeantrags als unzulässig bereits vor dem rechtskräftigen Abschluss eines von ihm gegen diese Entscheidung eingeleiteten Klageverfahrens abgeschoben werden darf, steht mit Unionsrecht in Einklang. Einschlägig ist hier allein die Richtlinie 2013/32/EU [(aa)]; die Richtlinie 2008/115/EG findet hier, da der angefochtene Bescheid in Einklang mit dem Unionsrecht keine weitere Rückkehrentscheidung enthält, keine Anwendung [(bb)]. [...]

(bb) Die Richtlinie 2008/115/EG findet bei Ablehnung eines Folgeantrags als unzulässig ohne (erneuten) Erlass einer Abschiebungsandrohung keine Anwendung. Erlässt das Bundesamt keine Abschiebungsandrohung, enthält der zu überprüfende Bescheid keine Rückkehrentscheidung und fehlt es für die Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/115/EG außer hinsichtlich der Frage, ob eine derartige Vorgehensweise zulässig ist [s.o. (b) (aa)], an einem Anknüpfungspunkt. Ein Verlust an Rechtsschutz ist mit der Unanwendbarkeit der Richtlinie 2008/115/EG nicht verbunden; Art. 18, 19 Abs. 2 und Art 47 GrCh gelten - wie bereits unter aa) aaa) dargelegt - unabhängig vom Erlass einer Rückkehrentscheidung für sämtliche Entscheidungen, die eine Aufenthaltsbeendigung eines Asylsuchenden (erneut) erlauben.

bb. Die verfahrensrechtliche Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hält einer Überprüfung am Maßstab des Unionsrechts ebenfalls stand.

(1) Die rechtlichen Vorgaben zur Prüfungsdichte im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verstoßen nicht gegen Unionsrecht. Insbesondere ist in diesen Verfahren eine hinreichende inhaltliche Prüfung durch die Verwaltungsgerichte gewährleistet (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 30. November 2018 - 31 L 682.18.A -, juris Rn. 24; a.A. Hruschka, Asylmagazin 2018, 290, 293; Müller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 36 AsylG Rn. 3).

Der Antragsteller kann im vorliegenden Verfahren sämtliche Einwände tatsächlicher und rechtlicher Art gegen den angefochtenen Bescheid geltend machen. Dies schließt auch Einwände ein, die auf nach Erlass des angefochtenen Bescheids eingetretenen Umständen beruhen (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG). Zudem beschränken weder die Verwaltungsgerichtsordnung noch das Asylgesetz die Verwaltungsgerichte im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf eine summarische Überprüfung der Sach- und Rechtslage. Vielmehr ist anerkannt, dass die Verwaltungsgerichte die Sach- und Rechtslage dann, wenn sie ihre Entscheidung - wie im vorliegenden Fall (s.u. cc. und dd.) - auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache stützen, nicht nur summarisch, sondern abschließend und umfassend prüfen müssen, wenn - wie in asylrechtlichen Verfahren üblicherweise geltend gemacht - ohne Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare Beeinträchtigungen drohen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 20. November 2018 - 2 BvR 80/18 -, juris Rn. 8, sowie vom 25. Februar 2019 - 2 BvR 1193/18 -, juris Rn. 21; Hailbronner, Ausländerrecht, § 36 AsylG Rn. 43 (Stand: März 2015)).

(2) Dass die Entscheidung im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im schriftlichen Verfahren ergehen kann, steht ebenfalls mit Unionsrecht in Einklang. [...]

(b) Der Umstand, dass das Bundesamt Asylsuchende, deren Folgeantrag als unzulässig abgewiesen wird, in der Regel nicht gemäß § 25 AsylG persönlich anhört, führt zu keinem anderen Ergebnis. Zwar hat der Gerichtshof der Europäischen Union betont, dass das Gericht einen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Asylantrags ohne (erneute) Anhörung des Asylsuchenden zurückweisen kann, wenn die tatsächlichen Umstände keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung lassen, sofern der Asylsuchende im erstinstanzlichen Verfahren (Anmerkung des Gerichts: im Verwaltungsverfahren) angehört wurde und die Niederschrift dieser Anhörung dem Gericht vorlag (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-348/16 -, juris Rn. 44 und 49).

Jedoch erlauben Art. 42 Abs. 2 Unterabs. 1 lit. a) und b) Richtlinie 2013/32/EU es den Mitgliedstaaten, für die Zulässigkeitsprüfung gemäß Art. 40 RL 2013/32/EU bzw. §§ 71 Abs. 1 AsylG, 51 Abs. 1 VwVfG auf eine Anhörung i.S.d. § 25 AsylG zu verzichten und den Betroffenen die Verpflichtung zum Tatsachenvortrag und zur Vorlage von Beweismitteln aufzuerlegen. Von dieser unionsrechtlichen Ermächtigung hat der deutsche Gesetzgeber Gebrauch gemacht (§ 71 Abs. 3 Satz 3 AsylG). Ist eine Anhörung gemäß § 25 AsylG schon im Verwaltungsverfahren nicht zwingend erforderlich, kann das Absehen hiervon durch das Bundesamt keine Verpflichtung zur Durchführung einer Anhörung im gerichtlichen (Eil-) Verfahren nach sich ziehen.

(3) Die Ausgestaltung der Rechtsberatung und -vertretung im gerichtlichen Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung genügt ebenfalls den unionsrechtlichen Vorgaben. [...]

(5) Der Ausschluss der Beschwerde gegen erstinstanzliche Entscheidungen in Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist aus Sicht des Unionsrechts ebenfalls nicht zu beanstanden. Weder Art. 46 Abs. 3 RL 2013/32/EU noch Art. 47 GrCh und auch nicht die Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität gebieten den Mitgliedstaaten, ein Rechtsmittel gegen eine erstinstanzliche gerichtliche Entscheidung in Asylsachen vorzusehen (vgl. EuGH, Urteil vom 26. September 2018 - C-180/17 (X und Y/Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie) -, juris Rn. 23 ff., 30 ff. und 34 ff.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18. Dezember 2018 - 11 S 2125/18 -, juris Rn. 28).

(6) Schließlich verstößt auch die Aufspaltung des gerichtlichen Rechtsschutzes in ein Verfahren zur Überprüfung der Rückkehrentscheidung gegen die Bundesrepublik Deutschland und ein Verfahren zur Überprüfung der Vollstreckung der Rückkehrentscheidung gegen den Rechtsträger der die Abschiebung durchführenden (Ausländer-) Behörde nicht gegen Unionsrecht. Diese Aufspaltung erschwert den Rechtsschutz nicht in unzumutbarer Weise. Insbesondere wird den Betroffenen inhaltlicher Vortrag durch die Aufspaltung des Rechtsschutzes nicht abgeschnitten; veränderte Umstände nach Abschluss des Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Anordnung können sie gegebenenfalls in einem Abänderungsverfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO geltend machen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18. Dezember 2018 - 11 S 2125/18 -, juris Rn. 11 f. und 25 ff.); diese Norm findet auf Beschlüsse über den Erlass einer einstweiligen Anordnung entsprechend Anwendung. [...]