VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.10.2019 - A 11 S 1203/19 - asyl.net: M27916
https://www.asyl.net/rsdb/M27916
Leitsatz:

Interner Schutz ist in der Regel in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif verfügbar:

"1. Liegen die Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vor, ist ein erneutes Asylverfahren nach den allgemeinen Regeln durchzuführen, ohne dass der Prüfungsumfang auf die für das Wiederaufgreifen des Verfahrens geltend gemachten Gründe beschränkt wäre.

2. Die Städte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif bieten afghanischen Rückkehrern grundsätzlich internen Schutz i.S.d. § 3e AsylG. Im Allgemeinen droht diesen dort weder wegen der schlechten Sicherheitslage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG), noch machen es die prekären humanitären Verhältnisse generell unzumutbar, sich dort niederzulassen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, nichtstaatliche Verfolgung, interne Fluchtalternative, Asylfolgeantrag, Herat, Kabul, Mazar-e Sharif, interner Schutz,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

22 Liegen die Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vor, hat der Antragsteller einen Anspruch auf eine erneute Sachprüfung, in deren Rahmen der Sachverhalt umfassend aufzuklären ist und die erforderlichen Beweise zu erheben sind (Bay. VGH, Urteil vom 13.02.2019 - 8 B 18.30257 -, juris Rn. 18). Für die teilweise vertretene Auffassung, auch der Prüfungsumfang im wiederaufgegriffenen Verfahren sei sachlich auf die geltend gemachten Wiederaufnahmegründe beschränkt (Hailbronner, AuslR, 98. Aktualisierung Oktober 2016, § 71 AsylG Rn. 44 f.; siehe allgemein dazu auch Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 51 Rn. 34 ff.; Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 20. Aufl. 2019, § 51 Rn. 19), sprechen zwar gewichtige Gründe. Sie ist im Anwendungsbereich des § 71 AsylG jedoch nicht mit Unionsrecht zu vereinbaren. Nach Art. 40 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2013/32/EU vom 26. Juni 2013 (Verfahrensrichtlinie) sind zulässige Folgeanträge nach den allgemeinen Vorschriften des Kapitels II (Art. 6 ff.) zu prüfen. Diese Bestimmungen sehen aber jedenfalls insofern keine Beschränkung auf vom Antragsteller vorgebrachte Umstände vor, als die allgemeine Situation im Herkunftsstaat betroffen ist. Auf die vom Antragsteller vorgebrachten oder die zutage getretenen Gründe, die gemäß Art. 40 Abs. 3 der Verfahrensrichtlinie die Entscheidung bedingen, ein neues Asylverfahren durchzuführen, nehmen sie keinen Bezug. Sie legen die Mitgliedstaaten, unbeschadet der Mitwirkungspflichten des Ausländers, vielmehr auf eine grundsätzlich umfassende Aufklärung von Amts wegen fest (vgl. Art. 10 der Verfahrensrichtlinie; siehe auch Art. 4 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 <Qualifikationsrichtlinie>). Daraus folgt zwar kein Anspruch des Ausländers auf eine vollständige Revision der bestandskräftigen Entscheidung über den früheren Asylantrag auf Grundlage der im ersten Verfahren vorgebrachten Tatsachen. Neue Umstände i.S.d. Art. 40 Abs. 3 der Verfahrensrichtlinie und des § 51 Abs. 1 VwVfG sind im wiederaufgegriffenen Verfahren jedoch unabhängig davon zu berücksichtigen, ob sie zur Begründung des Antrags auf Wiederaufgreifen vorgebracht worden sind. Liegen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vor, ist daher ein erneutes Asylverfahren nach den allgemeinen Regeln durchzuführen, ohne dass der Prüfungsumfang auf die für das Wiederaufgreifen des Verfahrens geltend gemachten Gründe beschränkt wäre. [...]

33 2. Die Städte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif bieten afghanischen Rückkehrern grundsätzlich internen Schutz i.S.d. § 3e AsylG. Im Allgemeinen droht diesen dort weder wegen der schlechten Sicherheitslage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG), noch machen es die prekären humanitären Verhältnisse generell unzumutbar, sich dort niederzulassen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG).

34 Nach den dem Senat zur Verfügung stehenden aktuellen Erkenntnisquellen (UNAMA, Quarterly Report on the Protection of Civilians in Armed Conflict: 1 January to 30 September 2019, 17.10.2019; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan <Stand: Juli 2019>, 02.09.2019; EASO, Afghanistan - Security Situation, Juni 2019; EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019; UNAMA, Afghanistan - Protection of Civilians in Armed Conflict, Annual Report 2018, Februar 2019; österr. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, 31.01.2019; ACCORD, Afghanistan: Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungs- und Sicherheitslage in Herat, Mazar-e Sharif <Provinz Balkh> und Kabul 2010-2018, 07.12.2018; UNOCHA, 2019 Humanitarian Needs Overview, Afghanistan, November 2018; UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan, HCR/EG/AFG/18/02, 30.08.2018; EASO, Country of Origin Report - Afghanistan Networks, Februar 2018) lassen die allgemeinen Umstände eine Niederlassung in den drei Städten zu. Im Einzelfall kann die Niederlassung zwar aufgrund individueller Umstände unzumutbar sein. Grundsätzlich sind aber alle drei Städte geeignet, internen Schutz zu bieten (ebenso EASO, Country Guidance: Afghanistan, Juni 2019, S. 34, 135; für Herat und Mazar-e Sharif österr. Bundesverwaltungsgericht, Entscheidung vom 11.05.2018 - W257 2146465-1 -, www.ris.bka.gv.at, Abschn. 4.4.3.7; für Mazar-e Sharif schweiz. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 08.02.2019 - D-4287/2017 -, www.bvger.ch, Abschn. 6.3.2.5; für Kabul UK Upper Tribunal, AS <Safety of Kabul> Afghanistan CG [2018] UKUT 00118 <IAC>; vgl. auch England and Wales Court of Appeal <Civil Division>, AS <Afghanistan> v Secretary of State for the Home Department [2019] EWCA Civ 873 <24 May 2019>; vgl. zu Kabul auch OVG NRW, Beschluss vom 14.03.2019 - 13 A 2600/18.A -, juris Rn. 14; zu Herat Nds. OVG, Beschluss vom 18.02.2019 - 9 LA 164/19 -, juris Rn. 10; a.A. in Bezug auf Kabul UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan, HCR/EG/AFG/18/02, 30.08.2018, S. 114 <unzumutbare humanitäre Verhältnisse>, und franz. Cour Nationale du Droit d’Asile, Urteil vom 29.01.2018 - 17045561 - <ernsthafte Bedrohung jeder Zivilperson in Kabul infolge willkürlicher Gewalt>).

35 Zwar sind die Lebensverhältnisse in Afghanistan generell schlecht (a.). Allerdings bieten die Großstädte Kabul (b.), Herat (c.) und Mazar-e Sharif (d.) zumutbaren Schutz, soweit nicht der Betroffene im Einzelfall eine erhöhte Vulnerabilität aufweist. Von Deutschland aus sind diese Städte auf dem Luftweg sicher und legal erreichbar (e.). [...]