LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 19.11.2019 - L 8 AY 1/19 B ER - asyl.net: M27947
https://www.asyl.net/rsdb/M27947
Leitsatz:

Ausschluss von Analogleistungen bei rechtsmissbräuchlichem Verhalten eng auszulegen:

Eine falsche Altersangabe bei sonst zutreffenden Angaben sowie die zulässige Rücknahme eines Asylgesuchs vor Stellung eines förmlichen Asylantrags sind nicht mit den typischen Fällen einer rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer vergleichbar, die nach § 2 Abs. 1 AsylbLG zum Ausschluss von Analogleistungsbezug führt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer, Altersangabe, unbegleitete Minderjährige, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Asylgesuch, Asylantrag,
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1, AsylbLG § 2 Abs. 1 a.F., AsylG § 13, AsylG § 14,
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Das SG hat den Eilantrag zu Unrecht abgelehnt. [...]

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch auf Iebensunterhaltssichernde Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. §§ 27 ff. SGB XII glaubhaft gemacht.

Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in der vom 1.3.2015 bis zum 20.8.2019 geltenden Fassung (Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes vom 10.12.2014 - BGBl. I 2014, 2187) ist das SGB XII abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. [...]

Dem Antragsteller kann nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht vorgeworfen werden, dass er die Dauer seines Aufenthalts rechtsmissbräuchlich im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG selbst beeinflusst hat.

Nach der Rechtsprechung des BSG (grundlegend: Urteil vom 17.6.2008 - B 8/9b AY 1/07 R - juris Rn. 32 ff.) setzt ein rechtsmissbräuchliches Verhalten in diesem Sinne in objektiver Hinsicht ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus, das in subjektiver Hinsicht vorsätzlich im Bewusstsein der objektiv möglichen Aufenthaltsbeeinflussung getragen ist. Dabei genügt angesichts des Sanktionscharakters des § 2 AsylbLG nicht schon jedes irgendwie zu missbilligende Verhalten. Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung wiegen für den Ausländer sowie über die Regelung des § 2 Abs. 3 AsylbLG (a.F.) für dessen minderjährige Kinder so schwer, dass auch der Pflichtverletzung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommen muss. Daher kann nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit), zum Ausschluss von Analog-Leistungen führen. Die Angabe einer falschen Identität stellt einen typischen Fall des Rechtsmissbrauchs dar (BSG, a.a.O., Rn. 34). [...]

Ob der Antragsteller am 17.3.2017 (für den in der Stellungnahme des Migrationsamtes und im ablehnenden Bescheid der Antragsgegnerin vom 11.10.2018 genannten 11.3.2017 gibt es keinerlei Anhaltspunkte) bei der ZASt in Bremen gemäß § 13 AsylG - ein formeller Asylantrag nach § 14 AsylG wurde jedenfalls nicht gestellt - ein Asylgesuch geäußert hat, ist nach Aktenlage letztlich unklar. [...] Jedenfalls ist überwiegend wahrscheinlich, dass der von dem Amtsvormund für den Antragsteller am 28.7.2017 nach § 14 Abs. 2 AsylG gestellte Asylantrag wirksam ist. [...] Der Antragsteller konnte - worauf das VG Bremen die Beteiligten in den Verfahren 4 K 661/17 und 4 V 662/17 zutreffend hingewiesen hat - ein wirksames Asylgesuch (hier vom 17.3.2017) im Sinne von § 13 AsylG bis zur Stellung eines förmlichen Asylantrags nach § 14 AsylG (28.7.2017) zurücknehmen. Dies war nicht rechtsmissbräuchlich, sondern entsprach der Rechtslage. Das (unterstellte) Fehlverhalten lässt sich auch nicht als ein den Ausschluss von Analogleistungen unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit rechtfertigendes unentschuldbares und sozialwidriges Verhalten bewerten. Bei dem Antragsteller stand ersichtlich nicht eine Beeinflussung der Aufenthaltsdauer, sondern die (letztlich vergeblich angestrebte) Inobhutnahme durch das Jugendamt und ein Verbleib in ... im Vordergrund. Sein Fehlverhalten - wenn er sein Geburtsdatum denn unzutreffend als ... 1999 angegeben hat - ist zudem nicht mit den typischen Fällen rechtsmissbräuchlicher Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer wie "Untertauchen", Angabe falscher Personalien (mit Ausnahme der Altersangabe bestehen keine Anhaltspunkte für unrichtige Angaben, insbesondere nicht im Sinne einer Identitätstäuschung) und Nichtmitwirkung bei Beschaffung von Identitätspapieren vergleichbar, und auch deshalb von geringem Gewicht, weil zwischen dem bei seiner Volljährigkeit wirksamen Asylgesuch vom 17.3.2017 und dem jedenfalls wirksamen Asylantrag vom 28.7.2017 nur gut vier Monate liegen. Weiteres Verhalten, das als Rechtsmissbrauch im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG zu qualifizieren ist, ist nicht ersichtlich. Die Einreise selbst kann nicht als Rechtsmissbrauch gewertet werden. Denn der Rechtsmissbrauch im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG bezieht sich nicht darauf, dass überhaupt ein Aufenthalt in Deutschland stattfindet, sondern auf die Beeinflussung der Aufenthaltsdauer (Senatsbeschluss vom 12.9.2019 - L 8 AY 12/19 B ER -; Cantzler, AsylbLG, 2019, § 2 Rn. 41 a.E.; a.A. Deibel in GK-AsylbLG, Stand August 2019, § 2 Rn. 63). [...]