VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.01.2020 - 11 S 2956/19 - asyl.net: M28051
https://www.asyl.net/rsdb/M28051
Leitsatz:

Die Zeit der Aufenthaltsgestattung zählt nicht zum geduldeten Voraufenthalt; kein Regelerteilungsanspruch bei Identitätstäuschung:

"Die Erteilung einer Beschäftigungsduldung gemäß § 60d Abs. 1 AufenthG setzt u.a. voraus, dass der Ausländer seit mindestens zwölf Monaten im Besitz einer Duldung ist. Eine Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG ist keine Duldung in diesem Sinne und ist einer solchen auch nicht gleichzusetzen.

Hat ein Ausländer über seine Identität getäuscht, liegt regelmäßig ein atypischer Fall vor, der dazu führt, dass die Behörde über einen Antrag auf Erteilung einer Beschäftigungsduldung gemäß § 60d Abs. 1 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden hat."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Beschäftigungsduldung, Täuschung über Identität, Staatsangehörigkeit, Vorduldungszeit, Vorduldung, Duldung, Aufenthaltsgestattung, Aufenthaltsdauer, Duldungszeit,
Normen: AufenthG § 60d Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 60d Abs. 1 Nr. 1 Bst. a, AsylG § 55 Abs. 1 S. 1, AsylG § 67 Abs. 1 S. 1 Nr. 6, AufenthG § 60a,
Auszüge:

[...]

b) Eine Beschäftigungsduldung kann nach § 60d Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nur erteilt werden, wenn der Ausländer seit mindestens zwölf Monaten im Besitz einer Duldung ist. Dies ist beim Antragsteller nicht der Fall. Die ihm am 22. August 2019 erteilte Duldung war bis 26. November 2019 befristet. Entgegen der Auffassung des Antragstellers kann der Zeitraum, in dem er als Asylantragsteller in den Genuss der Aufenthaltsgestattung gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1, § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AsylG kam (8. Juli 2016 bis 9. Juli 2019), auf die erforderliche Duldungszeit nicht angerechnet werden. Eine Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG ist keine Duldung in diesem Sinne und ist einer solchen auch nicht gleichzusetzen (vgl. Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 60d Rn. 15).

Der Begriff der Duldung ist ein Rechtsbegriff mit gesetzlich definiertem Gehalt (vgl. die amtliche Überschrift des § 60a AufenthG: Aussetzung der Abschiebung). Wo ihn das Aufenthaltsgesetz verwendet, ist er in diesem legaldefinierten Sinne zu verstehen, zumal das Aufenthaltsgesetz auch den asylrechtlichen Terminus der Aufenthaltsgestattung enthält (vgl. nur § 4 Abs. 3 Satz 5, § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 25b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und § 44 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG). Damit ist es auch im Rahmen des § 60d AufenthG ausgeschlossen, eine Aufenthaltsgestattung als Duldung zu verstehen.

Eine Aufenthaltsgestattung ist einer Duldung auch nicht gleichzusetzen. Insbesondere scheidet eine analoge Anwendung des § 60d Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aus, weil die methodischen Voraussetzungen dafür nicht vorliegen (zur Analogiefeindlichkeit der Vorschriften über humanitäre Aufenthaltsrechte siehe auch VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 04.03.2019 - 11 S 459/19 -, juris Rn. 6). Es fehlt bereits an einer entsprechenden Interessenlage. Zwar steht, wie der Antragsteller zu Recht betont, das Erfordernis einer Duldung von zwölf Monaten auch im Anschluss an ein abgeschlossenes Asylverfahren in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Ziel des § 60d AufenthG, gut integrierten und wirtschaftlich erfolgreichen Ausländern einen rechtssicheren Aufenthalt zu ermöglichen und eine Bleibeperspektive aufzuzeigen (BT-Drs. 19/8286, S. 2), wenn der (wohl) größten Gruppe in Frage kommender Ausländer - Asylantragsteller, die zwischen 2015 und 1. August 2018 eingereist sind - nach Abschluss des häufig über Jahre geführten Asylverfahrens weitere zwölf Monate Unsicherheit zugemutet werden (ähnlich Marx, Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz, 2020, § 60d Rn. 56). Freilich zeigt der vorliegende Fall, dass durchaus Anlass besteht, nach Abschluss des Asylverfahrens Raum für aufenthaltsbeendende Maßnahmen vorzusehen: Räumt der Ausländer im Zuge des Antrags auf Erteilung einer Beschäftigungsduldung ein, bislang über seine Identität getäuscht zu haben, um die Erteilungsvoraussetzungen zu schaffen (§ 60d Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), hätten die Ausländerbehörden kaum noch effektive Möglichkeiten, die Täuschung zu sanktionieren, wenn die Voraussetzungen dieses - gebundenen - Anspruchs mit Abschluss des Asylverfahrens bereits erfüllt wären.

Darüber hinaus folgt die Beschränkung auf Ausländer, die ein Jahr geduldet wurden, nicht nur aus dem klaren Wortlaut der Regelung. Sie entspricht auch dem insoweit eindeutig formulierten Willen des Gesetzgebers. Ausweislich der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 13. März 2019 (BT-Drs. 19/8286, S. 17) wird "durch die Anforderung des Besitzes einer Duldung seit zwölf Monaten <…> ausgeschlossen, dass unter Umständen die Beschäftigungsduldung direkt anschließend an einen ablehnenden Asylbescheid erteilt wird. Der Zeitraum gibt den Ausländerbehörden die Möglichkeit, aufenthaltsbeendende Maßnahmen durchzuführen.". Danach bezweckt die Regelung gerade, eine Anrechnung der Zeit der Aufenthaltsgestattung auf die Mindestduldungsdauer als Voraussetzung für die Erteilung der Beschäftigungsduldung auszuschließen. Schließlich ist in systematischer Hinsicht auch § 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG zu berücksichtigen, wonach die Erteilung einer Ausbildungsduldung ausdrücklich für den Fall vorgesehen ist, dass ein Asylbewerber die Erteilungsvoraussetzungen während des Asylverfahrens geschaffen hat. Dies hebt die Beschränkung auf Duldungen in § 60d Abs. 1 Nr. 2 AufenthG noch einmal hervor. [...]

Vorliegend ist die Variante des § 60d Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AufenthG einschlägig, weil der Antragsteller nach seinen Angaben vor dem 31. Dezember 2016 in das Bundesgebiet eingereist ist und am 1. Januar 2020 in einem Beschäftigungsverhältnis stand. In diesem Fall muss die Identität bereits "bis zur Beantragung der Beschäftigungsduldung" geklärt sein. [...]

2. [...] Weil der Antragsteller jedenfalls bis zur Vorlage eines pakistanischen Ausweisdokuments über seine Identität getäuscht hat, steht die Erteilung einer Beschäftigungsduldung ausnahmsweise im Ermessen des Antragsgegners. [...]

a) Nach § 60d Abs. 1 AufenthG "ist in der Regel eine Duldung nach § 60a Absatz 2 Satz 3" zu erteilen. Während die Erteilung der Duldung in ihrer Grundform nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG im Ermessen der Behörde steht, besteht auf die Beschäftigungsduldung gemäß § 60d Abs. 1 i. V. m. § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG grundsätzlich ein strikter Rechtsanspruch, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Der Behörde steht kein Ermessensspielraum zur Verfügung. Dies gilt jedoch nur "in der Regel". Regelfälle sind solche, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleich liegender Fälle unterscheiden. Davon abzugrenzen sind Ausnahmefälle. Allgemeinen Grundsätzen entsprechend sind Ausnahmefälle durch atypische Umstände gekennzeichnet, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigen. Ein Ausnahmefall liegt ferner vor, wenn Verfassungsrecht, Unionsrecht oder Völkerrecht eine Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten. [...]

Nach diesen Grundsätzen liegt vorliegend ein atypischer Fall vor, weil die vom Antragsteller begangene Identitätstäuschung den Zweck der gesetzlichen Regelung beseitigt. Zweck des § 60d Abs. 1 AufenthG ist es, Ausreisepflichtigen, die durch ihre Erwerbstätigkeit ihren Lebensunterhalt sichern und gut integriert sind, einen verlässlichen Status zu vermitteln (BT-Drs. 19/8286, S. 17). Gute Integration setzt nach der Vorstellung des Gesetzgebers u. a. die Akzeptanz der hiesigen Rechtsordnung und Kultur voraus (vgl. nur § 43 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Dazu gehören insbesondere wahrheitsgemäße Angaben über die eigene Identität. Die Mitwirkung bei der Klärung der eigenen Identität wird daher in verschiedener Weise aufenthaltsrechtlich gefordert (vgl. § 47a, § 49 AufenthG, §§ 15, 16 AsylG). Die Täuschung über die Identität wird sanktioniert. Insbesondere können Aufenthaltstitel versagt werden (§ 5 Abs. 1 Nr. 1a, § 25a Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG), es wird ein Ausweisungsinteresse begründet (§ 54 Abs. 2 Nr. 8 AufenthG), es bestehen teilweise erhebliche Einschränkungen der Rechte im Zusammenhang mit der Duldung und der Aufenthaltsbeendigung (§ 60a Abs. 5 Satz 5, Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2, § 60b, § 60c Abs. 2 Nr. 3, § 60d Abs. 1 Nr. 1, § 62 Abs. 3a Nr. 1 und Abs. 3b Nr. 1, § 62b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. b AufenthG), falsche Angaben können strafbar sein (§ 95 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 Nr. 2 AufenthG). Unbegründete Asylanträge werden im Falle der Identitätstäuschung als offensichtlich unbegründet abgelehnt (§ 30 Abs. 3 Nr. 2 und 3 AsylG), der Asylantragsteller unterliegt weiteren Einschränkungen im Asylverfahren (§ 30a Abs. 1 Nr. 3, § 47 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 AsylG). Die mit der Erfüllung der Voraussetzungen des § 60d Abs. 1 AufenthG vom Gesetzgeber regelhaft verknüpfte Vermutung der gelungenen Integration wird durch eine Identitätstäuschung erschüttert. Hat ein Ausländer über seine Identität getäuscht, liegt daher regelmäßig ein atypischer Fall vor, der dazu führt, dass die Behörde über einen Antrag auf Erteilung einer Beschäftigungsduldung gemäß § 60d Abs. 1 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden hat.

Daran ändert nichts, dass auch Ausländer, die in der Vergangenheit über ihre Identität getäuscht haben, zum maßgeblichen Zeitpunkt die Voraussetzungen des § 60d Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erfüllen können. Diese Bestimmung differenziert nicht nach den Gründen, aus denen die Identität bislang ungeklärt war. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Gesetzgeber im Rahmen des § 60d AufenthG einen Ausländer, der über seine Identität getäuscht hat, als gelungen integriert ansehen und sich damit zu der großen Zahl der genannten Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes und des Asylgesetzes, die das Gegenteil belegen, in Widerspruch setzen könnte. Für eine solch gravierende Ausnahme vom gesetzlichen Leitbild gelungener Integration bietet weder § 60d AufenthG noch das Aufenthaltsgesetz im Übrigen irgendeinen Anhalt. [...]

Insbesondere sind keine persönlichen Belange des Antragstellers ersichtlich, die von solchem Gewicht wären, dass sie die Erteilung der Beschäftigungsduldung nach § 60d Abs. 1 AufenthG trotz der erfolgten Identitätstäuschung zwingend geböten. [...]