VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 22.01.2020 - 33 L 492.19 A - asyl.net: M28124
https://www.asyl.net/rsdb/M28124
Leitsatz:

Mitwirkungspflichten im Widerrufsverfahren:

Schutzberechtigte sind nicht verpflichtet, dem Bundesamt im Rahmen eines Widerrufsverfahrens ihren Reisepass und andere Unterlagen auszuhändigen, wenn sie dem Bundesamt bereits im Asylverfahren vorgelegen haben, keine konkreten Zweifel an ihrer Echtheit bestehen und sie zudem für bevorstehende Scheidungs- und Eheschließungsverfahren und eine Vaterschaftsanerkennung benötigt werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Mitwirkungspflicht, Pass, Widerrufsverfahren, Rücknahmeverfahren, Zwangsgeld, Suspensiveffekt,
Normen: AsylG § 73c Abs. 3, AsylG § 73 Abs. 3a S. 1
Auszüge:

[...]

15 Offen ist bereits, ob die vom Antragsteller angeforderten Unterlagen für die Prüfung des Widerrufs bzw. der Rücknahme der Feststellung eines Abschiebungshindernisses überhaupt erforderlich i.S.d. § 73 Abs. 3a Satz 1 AsylG sind. Das Abschiebungshindernis wurde mit Blick auf eine Erkrankung des Antragstellers erteilt. Die vom Kläger geforderten Unterlagen lagen nach eigenen Angaben der Antragsgegnerin im Rahmen des Asylverfahrens vor. Es ist weder ersichtlich, noch vom Bundesamt vorgetragen, dass es nunmehr Zweifel an der Identität des Antragstellers hegt oder Anhaltspunkte für eine Fälschung der angeforderten Unterlagen bestehen. [...] Die Frage, ob die Mitwirkung nur dann erforderlich i.S.d. § 73 Abs. 3a Satz 1 AsylG ist, wenn Zweifel an der Echtheit der Unterlagen bzw. an der Identität bestehen bzw. dargelegt sind oder aber das Bundesamt nach Abschluss des Asylverfahrens auch ohne Zweifel an der Echtheit der angeforderten Unterlagen und an der angegebenen Identität, d.h. ins Blaue hinein bzw. zur bloßen Vervollständigung der Akten die Vorlage von Unterlagen verlangen darf, ist durch Auslegung der Vorschrift zu ermitteln, wobei die summarische Prüfung kein eindeutiges Auslegungsergebnis ergibt. Einerseits war Ziel der Einführung der Vorschrift des § 73 Abs. 3a AsylG ausweislich der Gesetzesmaterialien unter anderem, "durch behördliches Handeln im Asylverfahren entstandene Fehler (z.B. fehlende oder unzureichende Überprüfung der Identität oder der vorgelegten Dokumente)" zu korrigieren (vgl. BT-Drs. 19/4456 S. 10). Andererseits kann vertreten werden, dass der pauschale Verweis darauf, dass die Unterlagen wegen entsprechender Versäumnisse im Asylverfahren nachträglich zu überprüfen seien, das Erforderlichkeitskriterium in § 73 Abs. 3a Satz 1 AsylG verkenne und eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Ausweitung der Überprüfung der Identität nach § 16 Abs. 1a AsylG auch auf den Zeitraum nach der unanfechtbaren Feststellung eines Abschiebungshindernisses darstelle (so bezogen auf erkennungsdienstliche Maßnahmen i.S.d. § 16 Abs. 1 AsylG nach Abschluss des Asylverfahrens: VG Würzburg, Urteil vom 26. August 2019 – 7 K 2373/18.WI.A – juris Rn. 41). Die abschließende Klärung dieser Rechtsfrage muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. [...]

17 . Nach der danach erforderlichen Interessenabwägung überwiegt im konkreten Einzelfall das Interesse des Antragstellers, von der Mitwirkungshandlung vorerst verschont zu bleiben, das öffentliche Vollzugsinteresse. Der Antragsteller ist nach Aktenlage derzeit in mehrfacher Hinsicht auf die in Rede stehenden Identitätspapiere angewiesen. Dem Einwand des Antragstellers, die Urkundenüberprüfung könne sehr lange dauern, ist die Antragsgegnerin nicht entgegengetreten. Der Antragsteller befindet sich nach seinem Vorbringen gegenwärtig im Scheidungsverfahren und beabsichtigt nach der Scheidung seine Lebensgefährtin, Frau ..., zu heiraten und die Vaterschaft für deren ungeborenes Kind, dessen Geburt für den ... 2020 berechnet wurde, anzuerkennen, was die Vorlage der besagten Identitätspapiere erforderlich macht. [...] Scheidung, Eheschließung und Vaterschaftsanerkennung stellen bedeutsame Entscheidungen dar; von der besonderen Bedeutung von Ehe und Familie zeugt bereits Art. 6 Abs. 1 GG. Das Interesse des Antragstellers, seine Identität im Scheidungs-, Eheschließungs- und Vaterschaftsanerkennungsverfahren nachweisen zu können und insofern handlungsfähig zu bleiben, ist daher in hohem Maße anzuerkennen. Hinzu kommt, dass die Anerkennung der Vaterschaft vor der Geburt des Kindes, für die wegen ihrer Rechtsfolgen ein besonderes Interesse anzuerkennen ist, durch die Geburt, die für den ... 2020 berechnet wurde, termingebunden ist. [...]