VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Beschluss vom 17.01.2020 - 8 L 950/19 - asyl.net: M28136
https://www.asyl.net/rsdb/M28136
Leitsatz:

Einstweiliger Rechtsschutz gegen räumliche Beschränkung:

"1. Minderjährige müssen sich im Rahmen des § 61 Abs. 1c Satz 2 AufenthG die mangelhafte Mitwirkung ihrer Eltern als gesetzliche Vertreter bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen nach allgemeinen Rechts­grundsätzen zurechnen lassen.

2. Die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit einer räumlichen Beschränkung gemäß § 61 Abs. 1c Satz 2 AufenthG setzt ein besonderes öffentliches Interesse voraus, das über das mit dem Erlass des Verwaltungsakts verfolgte Interesse hinausgeht. Das allgemeine öffentliche Interesse an der Einhaltung und Durchsetzung aufenthaltsrechtlicher Vorschriften allein genügt regelmäßig nicht (Anschluss an OVG Magdeburg, Beschluss vom 25. April 2018 - 2 M 24/18 -, juris)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: räumliche Beschränkung, Mitwirkungspflicht, minderjährig, Palästinenser, Libanon, Heimreisedokument, Identitätspapier, Identitätsnachweis, Passbeschaffung, Anrechnung, Vollzugsinteresse, Suspensiveffekt,
Normen: AufenthG § 61 Abs. 1c S. 2, VwGO § 80 Abs. 3, BGB § 1626,
Auszüge:

[...]

14 dd. Die Antragsteller zu 2. bis 5. müssen sich bei der Frage der Nichterfüllung zumutbarer Anforderungen an die Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen das Verhalten ihrer gesetzlichen Vertreterin – der Antragstellerin zu 1. – zurechnen lassen. Dies folgt zum einen aus den familienrechtlichen Regelungen zur Personensorge (§ 1626 BGB), die auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht umfassen (OVG Lüneburg, Beschluss vom 02. Juli 2008 – 2 ME 302/08 –, juris, Rn. 12, zu § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG; OVG Münster, Beschluss vom 08. Dezember 2006 – 18 A 2644/06 –, juris, Rn. 26 f. zu § 25 Abs. 5 AufenthG). Im Hinblick darauf, dass der Vertretene sich das Verhalten des gesetzlichen Vertreters nach einer Vielzahl von Vorschriften zurechnen lassen muss (vgl. §§ 278 Satz 1, 254 Abs. 2 Satz 2 BGB; § 32 Abs. 1 Satz 2 VwVfG; § 51 Abs. 2 ZPO), hat das Bundesverwaltungsgericht die Frage nicht als grundsätzlich klärungsbedürftig in einem Revisionsverfahren erachtet (BVerwG, Beschluss vom 30. April 1997 – 1 B 74/97 –, juris, Rn. 4 zu § 30 Abs. 3 Ausländergesetz in der Fassung vom 26. Juni 1992). Das aufenthaltsrechtliche Fehlverhalten der Eltern als gesetzliche Vertreter wird auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung den minderjährigen Kindern ohne weiteres zugerechnet (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2010 – 1 C 18/09 –, juris, Rn. 22; Urteil vom 27. Januar 2009 – 1 C 40/07 –, juris, Rn. 22). Die in der Gesetzesbegründung dokumentierte Auffassung des Gesetzgebers (BT-Drs. 18/11546, S. 22), minderjährige Geduldete müssten sich das Verhalten ihrer Eltern insoweit nicht zurechnen lassen, hat im Wortlaut des § 61 Abs. 1c Satz 2 AufenthG keinen Niederschlag gefunden und kann daher für die Antragsteller zu 2. bis 5. zu keinem anderen Ergebnis führen. Ob dieser Zurechnungszusammenhang bei Eintritt der Volljährigkeit der Antragsteller zu 2. bis 5. unterbrochen wird oder fortdauert (vgl. dazu OVG Lüneburg, Urteil vom 15. Juni 2010 - 8 LB 117/08 -, juris, Rn. 48 zu § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG), bedarf an dieser Stelle keiner Entscheidung. [...]

17 c. Für die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO ist ein über das allgemeine Interesse am Erlass des Verwaltungsakts selbst hinausgehendes besonderes öffentliches Interesse für den Sofortvollzug erforderlich, das die Kammer im Fall der Antragsteller nicht erkennen kann. Der Antragsgegner versucht im Bescheid vom 01. Oktober 2019 den angeordneten Sofortvollzug mit spezial- und generalpräventiven Gründen, einer drohenden Aufenthaltsverfestigung sowie einer drohenden Unwirksamkeit der Maßnahme für den Zeitraum der aufschiebenden Wirkung zu rechtfertigen. Das damit beschriebene allgemeine öffentliche Interesse an der Einhaltung aufenthaltsrechtlicher Vorschriften und der Sanktionierung pflichtwidrigen Verhaltens geht jedoch nicht über das Interesse am Erlass der räumlichen Beschränkung selbst hinaus. Es liegt bei jedem Ausländer vor, gegenüber dem eine räumliche Beschränkung nach § 61 Abs. 1c S. 2 AufenthG verfügt wird. Zwar kann das Erlassinteresse mit dem Vollzugsinteresse auch identisch sein bzw. genügt im Fall eines offensichtlich rechtmäßigen Verwaltungsakts regelmäßig das allgemeine Interesse an der Einhaltung und Durchsetzung der Rechtsordnung (vgl. Külpmann, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Auflage 2017, Rn. 977). Dies kann jedoch nicht für die Anordnung des Sofortvollzugs einer räumlichen Beschränkung gelten, die erheblich in das auch Ausländern zustehende Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die davon umfasste Freiheit der Wahl des Aufenthaltsortes und des Wohnsitzes in der Bundesrepublik eingreift, und deren Gewicht durch die Anordnung des Sofortvollzugs noch zusätzlich verschärft wird (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 10. September 2014 – 8 ME 87/14 –, juris, Rn. 4 zur wohnsitzbeschränkenden Auflage). Hier bedarf es eines besonderen öffentlichen Vollzugsinteresses, das über das allgemeine öffentliche Interesse an der Einhaltung aufenthaltsrechtlicher Vorschriften hinausgeht. Dies folgt auch aus der Gesetzessystematik, die in dem Katalog der aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen in § 84 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, für die die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage gesetzlich ausgeschlossen wird, zum Ausdruck kommt. Durch die Aufnahme von Auflagen nach § 61 Abs. 1e AufenthG, nicht aber der räumlichen Beschränkung gemäß § 61 Abs. 1c AufenthG in diesen Katalog hat der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, dass er im Fall der räumlichen Beschränkung nicht schlechthin ein Bedürfnis für eine sofortige Durchsetzung der Anordnung gesehen hat, das dem Abwarten des Hauptsacheverfahrens entgegensteht (vgl. OVG Magdeburg, Beschluss vom 25. April 2018 – 2 M 24/18 –, juris, Rn. 5; OVG Lüneburg, a.a.O., Rn. 7).

18 Ein besonderes öffentliches Vollzugsinteresse, das sich aus den Umständen des Einzelfalls ableitet, hat der Antragsgegner nicht dargelegt. Auch die engere Bindung an den Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners deckt sich mit dem Zweck der verfügten räumlichen Beschränkung (vgl. BT-Drs. 18/11546, S. 22). Soweit eine bessere Durchsetzung einer Abschiebung erreicht werden soll, ist weder erkennbar, dass eine solche absehbar bevorsteht, noch dass bei den Antragstellern ein spezifisch erhöhtes Risiko bestünde, sich der Abschiebung zu entziehen bzw. unterzutauchen.

19 Auch im Übrigen vermag die Kammer nach Aktenlage kein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der räumlichen Beschränkung erkennen, dass das grundrechtlich geschützte Interesse der Antragsteller, während des Rechtsmittelverfahrens ihren Aufenthaltsort frei zu wählen, überwiegt. So hat die Antragstellerin nicht fortgesetzt und über einen längeren Zeitraum auf mehrere Aufforderungen hin jede Form der Mitwirkung verweigert. Sie hat vielmehr auf die erste Aufforderung des Antragsgegners – nach einer nach Aktenlage nicht weiter betriebenen Aufforderung durch den damals zuständigen Landkreis ... vom 17. August 2017 – zur Beschaffung eines Heimreisedokuments vom 05. September 2019 hin anwaltliche Beratung in Anspruch und noch innerhalb der von der Behörde bis zum 30. September 2019 gesetzten Frist Stellung genommen. Auch wurde weder vorgetragen noch ist es sonst ersichtlich, dass die Antragsteller beabsichtigen, unterzutauchen oder sich auf andere Weise dem Zugriff des Antragsgegners zu entziehen. [...]