VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 20.11.2019 - 4 K 794/19 - asyl.net: M28205
https://www.asyl.net/rsdb/M28205
Leitsatz:

Für die Kostenbeteiligung an der Jugendhilfe ist auf die Vorjahreseinkünfte abzustellen:

"Auch für einen Kostenbeitrag eines jungen Menschen für vollstationäre Leistungen ist gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII das durchschnittliche Monatseinkommen maßgeblich, das der junge Mensch in dem Kalenderjahr erzielt hat, welches dem jeweiligen Kalenderjahr der Leistung vorangeht.

Das durchschnittliche Monatseinkommen im Sinn von § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII ergibt sich auch dann, wenn eine Beschäftigung unter dem Jahr erstmals aufgenommen worden ist, aus dem gesamten Jahres­einkommen geteilt durch zwölf."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Jugendhilfe, Einkommen, Kostenbeitrag, Kostenbeteiligung, Berechnungsgrundlage, Einkommensermittlung, Unterbringung, Berechnung, Ausbildungsvergütung, Berufsausbildung, Einstiegsqualifizierung,
Normen: SGB III § 94 Abs. 6 S. 1, SGB III § 94 Abs. 6 S. 2, SGB III § 94 Abs. 6 S. 3, SGB III § 93 Abs. 4 S. 1,
Auszüge:

[...]

18 Der Beklagte hat aber der Höhe nach den Kostenbeitrag rechtswidrig festgesetzt. Das ergibt sich aus Folgendem:

19 Für den Oktober 2018 durfte der Beklagte bereits deshalb keinen Kostenbeitrag festsetzen, weil dem Kläger die Vergütung für diesen Monat erst Mitte November 2018 gezahlt worden war.

20 Auch für November und Dezember 2018 durfte der Beklagte keinen Kostenbeitrag beim Kläger erheben. Denn (auch) für einen Kostenbeitrag eines jungen Menschen für vollstationäre Leistungen ist gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII das durchschnittliche Monatseinkommen maßgeblich, das der junge Mensch in dem Kalenderjahr erzielt hat, welches dem jeweiligen Kalenderjahr der Leistung vorangeht; im Jahr 2017 hatte der Kläger jedoch noch kein bei der Festsetzung eines Kostenbeitrags zu berücksichtigendes Einkommen.

21 Die Auffassung des Beklagten, für die Berechnung des Kostenbeitrags sei § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII nicht, sondern vielmehr allein § 94 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII einschlägig, weil dieser bestimme, dass bei vollstationären Leistungen junge Menschen nach Abzug der in § 93 Abs. 2 genannten Beträge 75 % ihres Einkommens als Kostenbeitrag einzusetzen haben, trifft nach Überzeugung der Kammer nicht zu.

22 Der Beklagte stützt sich dabei auf die Empfehlungen des Kommunalverbandes für Jugend und Soziales zur Kostenbeteiligung in der Kinder- und Jugendhilfe Baden-Württemberg (zwischenzeitlich Stand 01.08.2019). Diese bestimmen in Teilziffer 94.6.1 (Heranziehung als Einkommen), dass insoweit das Einkommen des Monats maßgeblich sei, in dem die Leistung oder die Maßnahme erbracht werde; § 93 Abs. 4 SGB VIII finde nach der Auslegung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 27.09.2013 auf die Kostenbeteiligung junger Menschen aus Einkommen nach § 94 Abs. 6 SGB VIII keine Anwendung; der Gesetzgeber habe die Kostenbeteiligung junger Menschen aus Einkommen dort speziell geregelt und von einem Verweis auf § 93 Abs. 4 SGB VIII abgesehen; hierzu gebe es allerdings abweichende Rechtsprechung (VG Cottbus, VG Berlin).

23 Diese Auffassung hat sich aber in der Rechtsprechung bislang nicht durchgesetzt. Zwischenzeitlich haben zwei Oberverwaltungsgerichte im Sinne des Klägers entschieden (Bayer. VGH, Urt. v. 25.09.2019 - 12 BV 18.1274 -, Sächs. OVG, Urt. v. 09.05.2019 - 3 A 751/18 -, beide juris und mit zahlreichen Nachweisen). Anders als der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat das Sächsische Oberverwaltungsgericht die Revision zugelassen; diese ist nach Auskunft des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts auch eingelegt worden (beim Bundesverwaltungsgericht wird das Verfahren unter dem Aktenzeichen 5 C 9.19 geführt).

24 Die Kammer folgt der zitierten oberverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung aus den dort angeführten Gründen und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung ab. [...]

27 Insoweit könnte sich freilich die Frage stellen, wie das durchschnittliche Monatseinkommen, das die kostenpflichtige Person in dem Kalenderjahr vor Erhalt der Leistung erzielt hat, zu ermitteln ist, wenn eine Beschäftigung (oder eine selbständige Tätigkeit) unter dem Vorjahr erstmals aufgenommen wird. Denn in einem solchen Fall entspricht das der Bemessung des Kostenbeitrags zu Grunde gelegte Jahreseinkommen geteilt durch zwölf offensichtlich nicht der realen Einkommenssituation des Empfängers bei Erhalt der Jugendhilfeleistung (vgl. zu dieser Erwägung in anderem Zusammenhang BVerwG, Urt. v. 11.10.2012 - 5 C 22.11 -, juris). Näher läge es, insoweit auf das im Vorjahr erzielte Einkommen geteilt durch die Monate des Einkommensbezugs abzustellen.

28 Die Kammer ist jedoch zur Überzeugung gelangt, dass der Gesetzgeber bei der allgemeinen Regel des § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII über das zu berücksichtigende Einkommen ein ggf. eintretendes Missverhältnis grundsätzlich hingenommen hat, wie es ja auch in anderen Fällen eintreten kann, etwa wenn ein Arbeitnehmer unter dem Jahr eine erheblich besser bezahlte Stelle antritt oder ein Selbständiger erstmals eine Erwerbstätigkeit aufnimmt. Für eine teleologische Reduzierung des § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII dahingehend, nur die ggf. letzten Monate eines Jahres heranzuziehen, wenn sich das Einkommen in diesen konstant entwickelt hat, besteht auch (ebenso wenig wie oben bei der Frage, ob die Vorschrift nur für Selbstständige gilt) kein Anlass. [...]