EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 12.12.2019 - C-380/18 Niederlande gg. E.P. - asyl.net: M28236
https://www.asyl.net/rsdb/m28236
Leitsatz:

Rückkehrentscheidung gegenüber von der Visumspflicht befreiten Drittstaatsangehörigen bei Verdacht einer Straftat zulässig:

1. Nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex (SGK) zählt zu den Einreisevoraussetzungen, dass betreffende Drittstaatsangehörige keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats darstellen. Auch nach der Einreise hängt die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts von der weiteren Erfüllung dieser Anforderungen ab.

2. In der Folge sind die Mitgliedstaaten berechtigt, eine Rückführungsentscheidung nach Art. 6 der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG zu erlassen, wenn die betroffene Person eine solche Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt.

3. Der Begriff der "Gefahr für die öffentliche Ordnung" ist nicht in allen Richtlinien und Verordnungen der Europäischen Union gleich auszulegen. Vielmehr sind hierbei der Wortlaut der jeweiligen Bestimmung, ihr Zusammenhang und ihre Ziele zu berücksichtigen. So erfordert die Annahme einer Gefahr für die öffentliche Ordnung in Art. 6 Abs. 1 Buchst. e SGK es über den Verdacht einer Straftat hinaus nicht, dass das Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des betreffenden Mitgliedstaats berührt.

4. Zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit ist es jedoch erforderlich, dass die Straftat eine hinreichende Schwere aufweist und die zuständigen Behörden über übereinstimmende, objektive und eindeutige Indizien verfügen, die den Verdacht stützen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Drittstaatsangehörige, Positivstaater, Straftat, Verdacht, Kurzaufenthalt, Rückkehrentscheidung, Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Niederlande, E.P.,
Normen: RL 2008/115/EG Art. 6, SGK Art. 6 Abs. 1 Bst. e,
Auszüge:

[...]

23 Nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex zählt zu den Einreisevoraussetzungen für einen kurzen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten, dass der betreffende Drittstaatsangehörige keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats darstellen darf.

24 Obwohl diese Bestimmung diese Anforderung als Voraussetzung für die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten anführt, ist festzuhalten, dass auch nach dem Eintritt in dieses Hoheitsgebiet die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts dort von der Erfüllung dieser Anforderung abhängt. [...]

28 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass, da nach Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie die Mitgliedstaaten grundsätzlich gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung erlassen, ein Mitgliedstaat eine solche Entscheidung gegen einen sichtvermerksfreien Drittstaatsangehörigen, der sich für einen kurzen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten befindet, erlassen kann, wenn dieser eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex darstellt. [...]

31 Allerdings ist nicht jede Bezugnahme des Unionsgesetzgebers auf den Begriff "Gefahr für die öffentliche Ordnung" zwingend als ausschließlicher Verweis auf ein individuelles Verhalten zu verstehen, das eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des betreffenden Mitgliedstaats berührt. [...]

33 Somit sind zur Bestimmung der Tragweite des Begriffs "Gefahr für die öffentliche Ordnung" im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex der Wortlaut dieser Bestimmung, ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Juni 2015, T., C-373/13, EU:C:2015:413, Rn. 58, und vom 4. April 2017, Fahimian, C-544/15, EU:C:2017:255, Rn. 30). [...]

46 Angesichts all dieser Erwägungen kann Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex nicht dahin ausgelegt werden, dass er grundsätzlich einer innerstaatlichen Praxis entgegenstünde, nach der gegenüber einem sichtvermerksfreien Drittstaatsangehörigen, der sich für einen kurzen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten befindet, eine Rückkehrentscheidung erlassen wird, weil gegen ihn der Verdacht der Begehung einer Straftat besteht, ohne dass festgestellt wurde, dass sein Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des betreffenden Mitgliedstaats berührt.

47 Allerdings muss eine solche innerstaatliche Praxis dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen, der einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts bildet, und darf somit insbesondere nicht über das hinausgehen, was zum Schutz der öffentlichen Ordnung erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Mai 2019, Lavorgna, C-309/18, EU:C:2019:350, Rn. 24, vom 17. April 2018, Egenberger, C-414/16, EU:C:2018:257, Rn. 68, und vom 9. Juli 2015, K und A, C-153/14, EU:C:2015:453, Rn. 51).

48 Daraus folgt zum einen, dass die Straftat, deren Begehung der betreffende Drittstaatsangehörige verdächtig ist, angesichts ihrer Art und der drohenden Strafe eine hinreichende Schwere aufweisen muss, um die sofortige Beendigung seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu rechtfertigen. 49 Zum anderen können sich die zuständigen Behörden, wenn keine Verurteilung ergangen ist, nur dann auf eine Gefahr für die öffentliche Ordnung berufen, wenn übereinstimmende, objektive und eindeutige Indizien vorliegen, die den Verdacht stützen, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine solche Straftat begangen hat. [...]

51 Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen ist, dass er einer innerstaatlichen Praxis nicht entgegensteht, nach der die zuständigen Behörden eine Rückkehrentscheidung gegenüber einem nicht visumpflichtigen Drittstaatsangehörigen, der sich für einen kurzen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten befindet, erlassen können, weil dieser wegen des Verdachts der Begehung einer Straftat als Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen wird, sofern diese Praxis nur dann zur Anwendung gelangt, wenn diese Straftat zum einen angesichts ihrer Art und der drohenden Strafe eine hinreichende Schwere aufweist, um die sofortige Beendigung des Aufenthalts dieses Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu rechtfertigen, und zum anderen die zuständigen Behörden über übereinstimmende, objektive und eindeutige Indizien verfügen, die ihren Verdacht stützen, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist. [...]