OVG Niedersachsen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 19.12.2019 - 10 LA 64/19 - asyl.net: M28245
https://www.asyl.net/rsdb/M28245
Leitsatz:

Abschiebung von Familien mit Schutzstatus nach Italien nur bei konkret-individueller Zusicherung:

"Bei einer Rückkehr von als schutzberechtigt anerkannten Familien mit minderjährigen Kindern nach Italien bedarf es derzeit einer konkret-individuellen Zusicherung der Gewährleistung ihrer aus Art. 4 GRC folgenden Rechte durch die dortigen Behörden."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Italien, internationaler Schutz in EU-Staat, Aufnahmebedingungen, besonders schutzbedürftig, Kind, Kinder, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Obdachlosigkeit, Zulässigkeit, Arbeitslosigkeit, Unzulässigkeit, Circular Letter,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4
Auszüge:

[...]

21 Die Beklagte hat nicht hinreichend dargetan, weshalb die Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin als alleinstehende Person mit einem minderjährigen Kind bei ihrer Rückkehr nach Italien - ohne eine entsprechende Zusicherung der italienischen Behörden (so auch VG des Saarlandes, Urteil vom 07.10.2019 – 3 K 2156/18 –, S. 9; VG Berlin, Gerichtsbescheid vom 03.06.2019 – 34 K 1487.17 A –, juris Rn. 23 ff.; vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 –, juris Rn. 18 bis 20; a.A. Bayerischer VGH, Beschluss vom 09.09.2019 – 10 ZB 19.50024 –, juris Rn. 6) - Gefahr liefe, keine Unterkunft zu erhalten und ihre elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigen zu können, im Berufungsverfahren anders zu entscheiden sein könnte. [...]

23 Art. 4 GRC verlangt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes dagegen, dass auch nach Abschluss des Asylverfahrens die als schutzberechtigt anerkannte Person zu keinem Zeitpunkt dem Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird (vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17 –, juris Rn. 88). Das Gemeinsame Europäische Asylsystem und der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen nämlich auf der Zusicherung, dass die Anwendung dieses Systems in keinem Stadium und in keiner Weise zu einem ernsthaften Risiko von Verstößen gegen Art. 4 GRC führt (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17 –, juris Rn. 89). Dies ist in Italien für als schutzberechtigt anerkannte Familien mit minderjährigen Kindern allerdings bereits aufgrund der aktuellen zeitlichen Befristung ihrer Versorgung auf nur sechs Monate bzw. maximal eineinhalb Jahre nicht hinreichend sichergestellt. Es bedarf daher einer individuellen Zusicherung, die den Zeitraum abdeckt, in dem die besondere Schutzbedürftigkeit der Schutzberechtigten besteht bzw. diese zwingend auf staatliche Hilfe angewiesen sind (a.A. VG Cottbus, Urteil vom 14.11.2019 – 5 K 949/19.A –, juris Rn. 33). Dass insoweit für Familien mit Kindern etwas anderes bzw. diese Befristung nicht gelten würde, ist den dem Senat vorliegenden Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen (vgl. etwa Länderinformationsblatt 02/2019, S. 25; aida, Country Report Italy, Update 2018, Stand: 31.12.2018, S. 146 (im Folgenden: aida Italy 2018). Vielmehr scheint die zeitliche Begrenzung selbst auch für unbegleitete Minderjährige zu gelten, denen internationaler Schutz zuerkannt wurde (aida Italy 2018, S. 109).

24 Eine individuelle Zusicherung ist auch hinsichtlich des Umstandes erforderlich, dass nach dem vom Verwaltungsgericht zitierten Urteil des Senats vom 6. April 2018 (– 10 LB 109/18 –, juris Rn. 44) anerkannte Schutzberechtigte, die einmal in einer SPRAR-Einrichtung aufgenommen waren und diese verlassen haben, in der Regel keinen Zugang mehr zu diesem Aufnahmesystem haben (vgl. auch österreichisches BVwG, Entscheidung vom 17.01.2019 – W185 2201999-1 –, S. 10). Insoweit müssen auch erhebliche zeitliche Verzögerungen, die zu einer vorübergehenden Unterbringung von Familien mit minderjährigen Kindern in nicht kind- und familiengerechten Unterkünften oder gar zu ihrer vorübergehenden Obdachlosigkeit führen würden, ausgeschlossen sein (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 –, juris Rn. 23, 25; vgl. auch VG Minden, Urteil vom 20.09.2019 – 10 K 10479/17.A –, juris Rn. 51, und VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.07.2019 – A 4 S 749/19 –, juris Rn. 40, 118). Jedenfalls bei sogenannten Dublin-Rückkehrern, auch von Familien mit Kindern, die einmal ihre Unterkunft in Italien verlassen hatten, konnte es dagegen in der Vergangenheit bei ihrer Rückkehr zu Problemen und zeitlichen Verzögerungen bei ihrer erneuten Unterbringung kommen (vgl. SFH, Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, vom 08.05.2019, S. 13; Länderinformationsblatt 2/2019, S. 22 f.). Dass sich diese Situation in der nachfolgenden Zeit verbessert hätte oder als schutzberechtigt anerkannte Familien mit minderjährigen Kindern nicht betreffen würde, ist den dem Senat vorliegenden aktuellen Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen. [...]

26 Eine individuelle Zusicherung der Gewährleistung der Rechte von Familien mit minderjährigen Kindern aus Art. 4 GRC ist auch nicht aufgrund der Rundschreiben der italienischen Behörden ("circular letters") entbehrlich (so auch VG Berlin, Gerichtsbescheid vom 03.06.2019 – 34 K 1487.17 A –, juris Rn. 32 ff.; VG Lüneburg, Beschluss vom 03.04.2019 – 8 B 65/19 –, juris Rn. 52; a.A. Bayerischer VGH, Beschluss vom 09.09.2019 – 10 ZB 19.50024 –, juris Rn. 6). [...]

27 Die Rundschreiben aus den Jahren 2015, 2016 und 2018 beziehen sich bereits nach ihrem Wortlaut allein auf Familien mit Kindern, die unter die Regelungen der Dublin III-Verordnung fallen, damit auf solche, die - anders als im vorliegenden Fall - in Italien (noch) nicht als schutzberechtigt anerkannt worden sind. Dies gilt auch für das (wohl) letzte Rundschreiben "Circular letter n. 01.2019", auf das sich auch die Beklagte zur Begründung ihres Zulassungsantrags beruft und in dem pauschal erklärt wird, dass der Schutz der Grundrechte der Antragsteller, die dem Dublin-Verfahren unterliegen und daher in anderen als den SIPROIMI-Einrichtungen untergebracht würden, in den Einrichtungen sichergestellt sei, ebenso wie die Einheit der Familie und der Schutz von Minderjährigen dort gewahrt würden. Diese neuerliche und ohnehin sehr allgemein gehaltene Erklärung bezieht sich somit ebenfalls nicht speziell auf in Italien als schutzberechtigt anerkannte Personen mit minderjährigen Kinder, wie die Klägerin, und verleiht ihnen nicht den oben bezeichneten erforderlichen Schutz. Denn anerkannte Schutzberechtigte werden in diesem Schreiben nur insoweit allgemein erwähnt, als die Aufnahme in den SIPROIMI-Einrichtungen diesem Personenkreis (neben unbegleiteten Minderjährigen und Inhabern neuer Aufenthaltstitel) vorbehalten sein soll. Vor allem folgt aus diesen Rundbriefen nicht, dass Familien mit minderjährigen Kindern - entgegen den Darstellungen in den dem Senat vorliegenden Erkenntnismitteln - zur Verhinderung einer Verletzung von Art. 4 GRC auch über einen Zeitraum von sechs bzw. 18 Monaten hinaus untergebracht würden und auch dann dort (erneut) unterkommen würden, wenn sie zuvor die Einrichtung bzw. Italien ohne Genehmigung der zuständigen italienischen Behörden verlassen haben. [...]