OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 27.04.2020 - 10 LA 228/19 - asyl.net: M28431
https://www.asyl.net/rsdb/M28431
Leitsatz:

Die Übermittlung einfach signierter elektronischer Dokumente an das Gericht ist nicht sicher:

"Der Versand eines einfach signierten Dokuments durch eine Behörde über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach erfüllt nicht die Voraussetzungen des sicheren Übermittlungsweges nach § 55a Abs. 3 Alt. 2, Abs. 4 Nr. 3, Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 4 ERVV."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Berufungszulassungsantrag, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Elektronisches Gerichts- und Behördenpostfach, elektronischer Rechtsverkehr, elektronische Signatur, Formwirksamkeit, sicherer Übermittlungsweg, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Verschulden, Sorgfaltspflichten, digitale Signatur,
Normen: VwGO § 55a Abs. 2 S. 2, VwGO § 55a Abs. 3 Alt. 2, VwGO § 55a Abs. 4 Nr. 3, ERVV § 6 Abs. 1 Nr. 4
Auszüge:

[...]

4 Nach § 55a Abs. 1 VwGO (in der bis zum 31.12.2019 gültigen Fassung vom 18.07.2017) können unter anderem auch schriftlich einzureichende Anträge der Beteiligten nach Maßgabe von § 55a Abs. 2 bis 6 VwGO als elektronisches Dokument bei Gericht eingereicht werden. Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet sein (§ 55a Abs. 2 Satz 1 VwGO). Die Bundesregierung bestimmt durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die für die Übermittlung und Bearbeitung geeigneten technischen Rahmenbedingungen (§ 55a Abs. 2 Satz 2 VwGO).

5 Weiter muss das elektronische Dokument gemäß § 55a Abs. 3 VwGO (i.d.F.v. 18.07.2017) mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden. Ein sicherer Übermittlungsweg ist unter anderem gemäß § 55a Abs. 4 Nr. 3 VwGO der Übermittlungsweg zwischen einem nach Durchführung eines Identifizierungsverfahrens eingerichteten Postfach einer Behörde oder einer juristischen Person des öffentlichen Rechts und der elektronischen Poststelle des Gerichts; das Nähere regelt die Verordnung nach § 55a Abs. 2 Satz 2 VwGO. Die Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung, im Folgenden: ERVV) bestimmt in § 6 Abs. 1, dass die Behörden sowie juristischen Personen des öffentlichen Rechts (Postfachinhaber) zur Übermittlung elektronischer Dokumente auf einem sicheren Übermittlungsweg ein besonderes elektronisches Behördenpostfach verwenden können, das auf dem Protokollstandard OSCI oder einem diesen ersetzenden, dem jeweiligen Stand der Technik entsprechenden Protokollstandard beruht (1.), bei dem die Identität des Postfachinhabers in einem Identifizierungsverfahren geprüft und bestätigt wurde (2.), bei dem der Postfachinhaber in ein sicheres elektronisches Verzeichnis eingetragen ist (3.) und bei dem feststellbar ist, dass das elektronische Dokument vom Postfachinhaber versandt wurde (4.).

6 Die Beklagte hat ihren Zulassungsantrag weder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen (§ 55a Abs. 3 Alt. 1 VwGO, § 4 ERVV), noch hat sie ihn (als grundsätzliche Alternative hierzu, vgl. BT-Drs. 645/17, S. 14) auf einem sicheren Übermittlungsweg im Sinne des § 55a Abs. 3 Alt. 2, Abs. 4 VwGO, der über das besondere elektronische Behördenpostfach die Übermittlung ohne qualifizierte Signatur erlaubt (BT-Drs. 645/17, S. 17), eingereicht.

7 Die Beklagte hat ihren Berufungszulassungsantrag vielmehr über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) lediglich einfach signiert versandt. Dieser Übermittlungsweg erfüllt auch nicht - wie sie in ihrem Zulassungsantrag im Grunde auch selbst einräumt - die Anforderungen an einen sicheren Übermittlungsweg nach § 55a Abs. 3 Alt. 2, Abs. 4 Nr. 3, Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 4 ERVV. Denn es ist nicht - wie von § 6 Abs. 1 Nr. 4 ERVV jedoch vorausgesetzt - feststellbar, dass das elektronische Dokument vom Postfachinhaber (der Beklagten) versandt wurde. Dies erfordert die Übermittlung eines Herkunftsnachweises (BT-Drs. 645/17, S. 18; Sächsisches OVG, Beschluss vom 16.12.2019 – 4 A 1158/19.A –, juris Rn. 5). Allein der - wie hier - einfach signierte Versand über das EGVP gewährleistet eine solche Identifizierung des versendenden Postfachinhabers aufgrund des fehlenden Herkunftsnachweises nicht (Thüringer OVG, Beschluss vom 28.01.2020 – 3 ZKO 796/19 –, juris Rn. 4 ff.; Sächsisches OVG, Beschluss vom 16.12.2019 – 4 A 1158/19.A –, juris Rn. 5 f.; BT-Drs. 645/17, S. 14).

8 Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Schriftformerfordernis (Beschluss vom 05.02.2003 – 1 B 31.03 –) anführt, dass auch bei der vorliegenden konkreten Art der Übermittlung zu erkennen sei, dass der Zulassungsantrag mit diesem Inhalt in den Verkehr gebracht werden sollte und dieser deshalb ausnahmsweise als formwirksam einzustufen sei, folgt der Senat dieser Auffassung nicht (so auch Thüringer OVG, Beschluss vom 28.01.2020 – 3 ZKO 796/19 –, juris Rn. 7; Sächsisches OVG, Beschluss vom 16.12.2019 – 4 A 1158/19.A –, juris Rn. 9). Das Bundesverwaltungsgericht hat in der von der Beklagten angeführten Entscheidung hinsichtlich der fehlenden Unterschrift bei einem Schriftformerfordernis ausgeführt, dass auch ein solcher Schriftsatz ausnahmsweise beachtlich sein kann, wenn sich aus anderen Anhaltspunkten eine der Unterschrift vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft und den Willen, das Schreiben in den Rechtsverkehr zu geben, ergibt (juris Rn. 1). Solche Anhaltspunkte sind vorliegend bereits nicht erkennbar (so auch Sächsisches OVG, Beschluss vom 16.12.2019 – 4 A 1158/19.A –, juris Rn. 9; darüber hinaus § 55a VwGO als abschließend betrachtend: OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 18.12.2019 – 1 LA 72/19 –, juris Rn. 4 m.w.N.). Die Beklagte führt hierfür an, dass die Übermittlung in Fortführung der bisherigen Übermittlungspraxis und Vorgehensweise erfolgt sei. Dies ist jedoch nicht der Fall. Denn der Berufungszulassungsantrag der Beklagten wurde gerade entgegen ihrer bisherigen Praxis nicht auf dem sicheren Übermittlungsweg im Sinne des § 55a Abs. 4 Nr. 3 VwGO übersandt. Bereits diese Abweichung von der üblichen Verfahrensweise der Beklagten, zudem unter Aufgabe der Einhaltung der Formvorschriften für die Übermittlung elektronischer Dokumente, steht der ausreichenden Gewähr für die Annahme entgegen, dass das Schriftstück von ihr mit ihrem Willen in den Rechtsverkehr gebracht wurde. Darüber hinaus soll gerade der - vorliegend fehlende - Herkunftsausweis gewährleisten, dass das Schriftstück mit Wissen und Wollen des Berechtigten durch eine zugangsberechtigte Person übermittelt wurde (Sächsisches OVG, Beschluss vom 16.12.2019 – 4 A 1158/19.A –, juris Rn. 9). Insoweit normiert § 6 Abs. 1 Nr. 4 ERVV auch ausdrücklich, dass feststellbar sein muss, dass das elektronische Dokument vom Postfachinhaber versandt wurde. Ist eine solche Feststellung nicht möglich, weil es an dem erforderlichen Herkunftsnachweis fehlt, kann nicht unter Heranziehung der Rechtsprechung zur fehlenden Unterschrift beim Schriftformerfordernis, davon ausgegangen werden, dass die Identität des Absenders ausreichend gewährleistet ist (in diesem Sinne wohl auch OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 18.12.2019 – 1 LA 72/19 –, juris Rn. 4).

9 2. Der Beklagten war auch nicht gemäß § 60 Abs. 1 VwGO Wiedereinsetzung in die Antragsfrist des § 78 Abs. 4 Sätze 1 und 4 AsylG zu gewähren (so auch Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 31.03.2020 – 9 LA 440/19 –, juris Rn. 14 ff.; Sächsisches OVG, Beschluss vom 16.12.2019 – 4 A 1158/19.A –, juris Rn. 10; Thüringer OVG, Beschluss vom 28.01.2020 – 3 ZKO 796/19 –, juris Rn. 8; a.A. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 18.12.2019 – 1 LA 72/19 –, juris Rn. 5).

10 Nach § 60 Abs. 1 VwGO ist demjenigen, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Wiedereinsetzungsgründe, d.h. sämtliche Umstände, die für die Frage von Bedeutung sind, auf welche Weise und durch wessen Verschulden es zu der Fristversäumnis gekommen ist, müssen bei einem Wiedereinsetzungsgesuch grundsätzlich innerhalb der Antragsfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO substantiiert und schlüssig dargelegt werden (BVerwG, Beschluss vom 26.06.2017 – 1 B 113.17 –, juris Rn. 5). Gemäß § 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO sind diese Tatsachen bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag zudem glaubhaft zu machen. Ein "Verschulden" im Sinne von § 60 Abs. 1 VwGO liegt vor, wenn diejenige Sorgfalt außer Acht gelassen wird, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden geboten ist und die ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war (BVerwG, Beschluss vom 29.06.2016 – 2 B 18.15 –, juris Rn. 11 m.w.N.)

11 Die Beklagte hat keine Umstände glaubhaft gemacht, die den Schluss zuließen, dass sie ohne Verschulden an der (formwirksamen) Beantragung der Zulassung der Berufung und der Darlegung der Zulassungsgründe binnen der Frist des § 78 Abs. 4 Sätze 1 und 4 VwGO gehindert gewesen ist.

12 Ihr - aus ihrer Sicht - fehlendes Verschulden stützt die Beklagte darauf, dass die nicht formwirksame Übermittlung über das elektronische Behördenpostfach (beBPo) für sie nicht erkennbar gewesen sei. Dazu führt sie im Wesentlichen aus: Die technische Betreuung des beBPo erfolge zu wesentlichen Teilen über externe Dienstleister. Aus der nach dem Versand automatisiert erstellten Übermittlungsbestätigung bzw. dem Sendeprotokoll gehe nicht hervor, ob eine Übermittlung über das beBPo oder lediglich über das EGVP erfolgt sei. Dies hätten lediglich die empfangenden Gerichte über den Prüfvermerk auf dem dortigen Eingangsprotokoll erkennen können.

13 Damit hat die Beklagte zwar dargelegt, dass sie die fehlerhafte Übermittlung nicht erkannt hat. Ihren Ausführungen ist jedoch nicht zu entnehmen, dass sie den Versand über das EGVP statt über das beBPo bei Beachtung der gebotenen und ihr zumutbaren Sorgfalt nicht hätte bemerken können (a.A. OVG Schleswig- Holstein, Beschluss vom 18.12.2019 – 1 LA 72/19 –, juris Rn. 5). So hat sie insbesondere auch nicht dargelegt, weshalb ihr nicht möglich gewesen sein sollte, etwa über die das beBPo betreuenden externen Dienstleister, das Sendeprotokoll - entsprechend dem gerichtlichen Eingangsprotokoll - auch auf die Angabe des Übermittlungsweges zu erweitern (in diesem Sinne auch Thüringer OVG, Beschluss vom 28.01.2020 – 3 ZKO 796/19 –, juris Rn. 16 bis 19; Sächsisches OVG, Beschluss vom 16.12.2019 – 4 A 1158/19.A –, juris Rn. 11 f.) und so etwaige diesbezügliche Fehler (wie sie vorliegend aufgetreten sind) erkennen zu können. Die Beklagte hat hinsichtlich der technischen Möglichkeiten der weitergehenden (automatisierten) Überprüfung des Sendevorgangs vielmehr keinerlei Angaben gemacht und damit gerade nicht dargelegt und glaubhaft gemacht (§ 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO), dass sie die fehlerhafte Übermittlung auch bei Beachtung der erforderlichen Sorgfalt nicht - wie von ihr behauptet - hätte erkennen können. Soweit dies technisch möglich ist, umfasst die gebotene und der Beklagten zumutbare Sorgfaltspflicht auch eine wirksame Überprüfung der fehlerfreien Übermittlung, insbesondere die fehlerfreie Absendung fristwahrender Schriftsätze (so auch Sächsisches OVG, Beschluss vom 16.12.2019 – 4 A 1158/19.A –, juris Rn. 11 f.; vgl. hierzu auch ausführlich Thüringer OVG, Beschluss vom 28.01.2020 – 3 ZKO 796/19 –, juris Rn. 11 bis 14). [...]