VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 12.12.2019 - 38 K 374.19 V (Asylmagazin 8/2020, S. 283 ff.) - asyl.net: M28470
https://www.asyl.net/rsdb/M28470
Leitsatz:

Kein Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten bei Eheschließung nach Verlassen des Herkunftslandes:

1. Ehen, die erst nach Verlassen des Herkunftslandes geschlossen wurden, sind vom Anwendungsbereich des § 36a Abs. 1 S. 1 AufenthG ausgeschlossen. Dies gilt auch dann, wenn zum Zeitpunkt der Eheschließung die Flucht noch andauerte. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und der gesetzgeberischen Intention. Der Ausschluss verstößt auch nicht gegen Unionsrecht, das Grundgesetz oder anderes höherrangiges Recht.

2. Es ergibt sich keine Ausnahme daraus, dass die Eheleute bereits im Herkunftsland verlobt waren und die Hochzeit nur aufgrund der fehlenden, wegen Minderjährigkeit erforderlichen Zustimmung der Eltern, nicht bereits früher stattfand.

3. Die Regelung zum Nachzug zu sonstigen Familienangehörigen nach § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG ist auf Angehörige von subsidiär Schutzberechtigten nicht anwendbar. Ohnehin stellen die Lebensbedingungen in der Türkei, auch wenn sie schwierig sind, keine außergewöhnliche Härte dar.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch zu diesen Fragen inzwischen in einem anderen Verfahren ergangenes Revisionsurteil des BVerwG: Urteil vom 17.12.2020 - 1 C 30.19 - asyl.net: M29408)

Schlagwörter: subsidiärer Schutz, Ehegattennachzug, Eheschließung, Zeitpunkt der Eheschließung, außergewöhnliche Härte, Verlöbnis, Absicht zur Eheschließung, atypischer Ausnahmefall, Ausschlussgrund, Familienzusammenführung,
Normen: AufenthG § 36a Abs. 1 S. 1, AufenthG § 36 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 36a Abs. 3 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

1. Eine Ehe ist "nicht bereits vor der Flucht geschlossen", wenn sie erst nach Verlassen des Herkunftslandes geschlossen wurde. Ausgeschlossen vom Anwendungsbereich des § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG sind damit grundsätzlich auch Ehen, die in einem Zeitpunkt geschlossen worden sind, in dem die Flucht noch andauerte (vgl. VG Berlin, Urteil vom 28. Juni 2019 - VG 38 K 43.19 V -; Urteil vom 26. August 2019 - VG 38 K 28.18 V - jeweils juris). [...]

Für die Auffassung der Kammer zur Auslegung des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG spricht neben dem bereits insoweit eindeutigen Wortlaut der Vorschrift ("vor der Flucht") auch deren Entstehungsgeschichte. Ehen, die "nach der Flucht aus dem Herkunftsland" geschlossen wurden, sollen nach der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung in der Regel nicht zum Familiennachzug berechtigen (vgl. BT-Drs. 19/2438, S. 3). Zudem stellt der Gesetzgeber ausdrücklich klar, dass Anderes für "nach dem Verlassen des Herkunftslandes geborene Kinder" gelte (vgl. BT-Drs. 19/2438, S. 24). Eine derartige Beschränkung des Ehegattennachzugs entspricht auch dem Sinn und Zweck des Gesetzes zur Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten - Familiennachzugsneuregelungsgesetz - (vgl. BGBl. I 2018, S. 1147). Es zielt darauf ab, vor dem Hintergrund der hohen Zahl von Asylsuchenden aus Herkunftsländern mit hoher Anerkennungsquote einen Ausgleich zwischen den rechtlichen und humanitären Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland einerseits und den Integrations- und Aufnahmesystemen von Staat und Gesellschaft andererseits zu schaffen (vgl. BT-Drs. 19/2438, S. 1, 15). [...]

Auch das Unionsrecht gebietet keinen weitergehenden Ehegattennachzug. Insbesondere ist dies nicht wegen der Richtlinie 2003/86/EG - Familienzusammenführungsrichtlinie - geboten. [...]

Die Einschränkung des Ehegattennachzugs auf vor der Flucht des subsidiär Schutzberechtigten geschlossene Ehen ist auch mit sonstigem höherrangigem Recht vereinbar. Insbesondere greift sie nicht unverhältnismäßig in das Grundrecht der Klägerin aus Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG - ein, dessen Schutzbereich auch das eheliche Zusammenleben umfasst (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. - juris Rn. 86). [...]

Darüber hinaus verstößt die Einschränkung des Ehegattennachzugs nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (vgl. Art. 3 Abs. 1 GG). Unter Berücksichtigung der gesetzlichen Zwecksetzung ist der Zeitpunkt der Eheschließung ein sachlicher Differenzierungsgrund. So kann wirksam ausgeschlossen werden, dass die Voraussetzungen für eine Nachzugsmöglichkeit erst nach Verlassen des Herkunftslandes aus eigenem Entschluss geschaffen werden.

Sofern einzelne Ausländerbehörden auch während der Flucht geschlossene Ehen als schutzwürdig im Sinne des § 36a AufenthG erachten, ist dies unerheblich. So ist etwa nach den Verfahrenshinweisen der Ausländerbehörde Berlin (VAB Nr. 36a.3.1, Stand: 29. November 2019) unter Flucht nicht nur die Ausreise aus dem Herkunftsstaat zu verstehen, sondern auch die Ein-, Durch- und Ausreise aus allen anderen Staaten vor Überqueren der Außengrenze eines Schengen-Staates. [...] Ein aus einer Selbstbindung der Verwaltung resultierender Anspruch käme aber allenfalls dann in Betracht, wenn die Behörde eine bestimmte Ermessenspraxis hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. August 2003 - BVerwG 3 C 49.02 - BVerwGE 118, 379, juris Rn. 14). Eine solche setzt ein der Behörde zustehendes Ermessen voraus. § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ist jedoch, wie ausgeführt, negative Tatbestandsvoraussetzung eines Ehegattennachzugs zum subsidiär Schutzberechtigten; ein Ermessen der Behörde ist insoweit nicht eröffnet. [...]

Der Auslegung der Kammer steht auch nicht die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - EGMR - entgegen. Dieser erkannte zwar in einer Beschränkung des Ehegattennachzugs für Geflüchtete auf vor der Flucht geschlossene Ehen im britischen Recht eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung und damit eine Verletzung von Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - (vgl. EGMR, Urteil vom 6. November 2012, Nr. 22341/09 [Hode und Abdi] - juris). Eine unmittelbare Übertragung der Erwägungsgründe der Entscheidung auf die vorliegend zu betrachtende Konstellation scheidet aber gleichwohl aus. [...]

2. Eine Ausnahme von dem Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG liegt nicht vor.

Hierzu hat die Klägerin geltend gemacht, dass sie und ihr Ehemann bereits vor dessen Flucht die Absicht hatten zu heiraten. Allein wegen der fehlenden Zustimmung der Eltern der Klägerin zur Eheschließung ihrer damals noch minderjährigen Tochter habe die Hochzeit erst später stattgefunden.

Dies reicht für die Annahme einer atypischen Situation, die eine Abweichung vom Regelfall erforderte, nicht aus. Gründe für eine Eheschließung erst nach Verlassen des Herkunftslandes sind hiervon insbesondere dann erfasst, wenn sie zu einem früheren Zeitpunkt wegen der allgemeinen Lage im Herkunftsland nicht möglich war. [...]

Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Familiennachzug zu ihrem Ehemann gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Danach kann sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug erteilt werden, wenn dies zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Diese tatbestandlichen Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.

Die Klägerin ist als Ehefrau keine "sonstige Familienangehörige" im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Die Vorschrift ist auf den Nachzug zum subsidiär schutzberechtigten Ehegatten nicht anwendbar. [...]

Im Übrigen fehlt es an einer außergewöhnlichen Härte. Eine solche liegt vor, wenn der im Ausland lebende volljährige Familienangehörige dort kein eigenständiges Leben mehr führen kann und die von ihm benötigte, tatsächlich und regelmäßig zu erbringende wesentliche familiäre Lebenshilfe in zumutbarer Weise nur in der Bundesrepublik Deutschland durch die Familie erbracht werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - BVerwG 1 C 15.12 - juris Rn. 12 f.). Dies ist hier nicht der Fall. Die Klägerin hat bei Beantragung des Visums erklärt, weder ihr Leben noch ihre körperliche Unversehrtheit oder ihre Freiheit in der Türkei seien ernsthaft bedroht. Zudem habe sie keine gesundheitlichen Beschwerden. Der übrige Vortrag der Klägerin, sie könne in der Türkei weder arbeiten noch zur Schule gehen, und der Familie gehe es trotz der Erwerbsarbeit ihrer jüngeren Brüder finanziell schlecht, reicht für die Annahme einer außergewöhnlichen Härte nicht aus. Abgesehen davon sind bei der Frage, ob eine außergewöhnliche, den Familiennachzug rechtfertigende Härte vorliegt, die (insbesondere politische und wirtschaftliche) Lage im Herkunftsstaat betreffende Gesichtspunkte nicht zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. Juni 1997 - BVerwG 1 B 236.96 - juris Rn. 9). [...]