VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 05.03.2020 - 38 K 71.19 V - Asylmagazin 6-7/2020, S. 237 f. - asyl.net: M28491
https://www.asyl.net/rsdb/M28491
Leitsatz:

Regel-Ausnahme-Verhältnis beim Ausschluss vom Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nach § 36a Abs. 3 AufenthG:

1. Bei den Ausschlussgründen vom Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nach § 36a Abs. 3 AufenthG besteht ein Regel-Ausnahme-Verhältnis, das mit dem der Lebensunterhaltssicherung nach § 5 AufenthG vergleichbar ist. Eine Ausnahme kann bei atypischen Geschehensablauf vorliegen oder sich aus verfassungs-, unions- oder völkerrechtlich begründender Unzumutbarkeit des Ausschlusses ergeben. Hierbei sind sowohl der Schutz von Ehe und Familie als auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten.

2. Bei § 36a AufenthG handelt es sich um eine Ermessensnorm, die subjektive Rechte begründet. Die Ungleichbehandlung beim Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten und anerkannten Flüchtlingen steht im Einklang mit Art. 3 GG, da unterschiedliche völkerrechtliche Vorgaben bestehen.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VG Berlin, Urteil vom 21.01.2020 - 38 K 429.19 V, gleichlautend: VG 38 K 19.19.V , VG 38 K 51.19 V, VG 38 K 52.19 V - asyl.net: M28472, OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18.06.2019 - 3 M 125.19 - asyl.net: M27365)

Schlagwörter: Familienzusammenführung, subsidiärer Schutz, Straftat, humanitäre Gründe, Regelversagungsgrund, Regel-Ausnahme-Verhältnis, atypischer Ausnahmefall, Kindernachzug, Ehegattennachzug, Betäubungsmittelgesetz, Verhältnismäßigkeit, Ermessen, subjektives Recht, Drogendelikt,
Normen: AufenthG § 36a Abs. 3 Nr. 2 Bst. d,
Auszüge:

[...]

19 Bei § 36a Abs. 1 S. 1 und S. 2 AufenthG handelt es sich nicht lediglich um eine Befugnisnorm, die keine subjektiven Rechte gewährt und damit eine Klagebefugnis auch nicht begründen kann, sondern um eine sog. Ermessensnorm (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. Juni 2019 – OVG 3 M 125.19 –, juris Rn. 5; Kluth, in: Kluth/Heusch, Beck’scher Online-Kommentar AusländerR, 24. Edition, Stand: 1. November 2019, § 36a Rn. 9; Kluth, ZAR 2018, 375 [376]; Zeitler, in: HTK-AuslR, § 36a Abs. 1 AufenthG, Stand: 12/2019, Nr. 6). [...]

22 Dass die Erteilung anders als beim Nachzug der Ehegatten und Kinder zu einem anerkannten Flüchtling nach § 30 Abs. 1, § 32 Abs. 1 AufenthG (lediglich) im Ermessen der Behörde steht, stellt keinen Verstoß gegen Art. 3 GG dar, da insoweit unterschiedliche völkerrechtliche Vorgaben bestehen (siehe VG Berlin, Urteil vom 21. Januar 2020 – VG 38 K 429.19 V –, juris Rn. 48-52). Die einschlägigen unionsrechtlichen ausländer- und asylrechtlichen Richtlinien enthalten keine Vorgaben für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten (siehe VG Berlin, Urteil vom 21. Januar 2020 – VG 38 K 429.19 V –, juris Rn. 30-36). [...]

28 b) Der Anspruch ist ferner nicht nach § 36a Abs. 3 Nr. 2 lit. d) AufenthG ausgeschlossen.

29 Danach ist die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis bzw. des Visums in der Regel ausgeschlossen, wenn der Ausländer, zu dem der Familiennachzug stattfinden soll, wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten nach § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) rechtskräftig verurteilt worden ist. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

30 Zwar wurde der Stammberechtigte vorliegend in diesem Sinne durch Strafbefehl des Amtsgerichts vom 9. Januar 2019 zu einer Geldstrafe in Höhe von 30 Tagessätzen verurteilt. Diese Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG ist auch seit dem 20. März 2019 rechtskräftig. Entgegen der Ansicht der Beklagten liegt aber ein Ausnahmefall vor.

31 Dabei überträgt die Kammer die für die Bestimmung des Regel-Ausnahme-Verhältnis bei den allgemeinen Nachzugsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG geltenden Grundsätze auf die vorliegend streitgegenständliche Regelung (so im Ergebnis auch Kluth, in: Kluth/Heusch, Beck’scher Online-Kommentar AusländerR, 24. Edition, Stand: 1. November 2019, § 36a Rn. 38f.). Für eine Abweichung vom Regelfall müssen daher besondere Umstände vorgetragen oder ersichtlich sein, die sich entweder aus der Atypik des Geschehensverlaufes oder einer aus verfassungs-, unions- oder völkerrechtlichen Gründen folgenden Unzumutbarkeit der Anwendung des Regelausschlussgrundes ergeben (siehe zu § 5 AufenthG: Maor, in: Kluth/Heusch, Beck’scher Online-Kommentar AusländerR, 24. Edition, Stand: 1. November 2019, § 5 Rn. 20 f.; Zeitler, in: HTK-AuslR, § 5 AufenthG, Abs. 1 Nr. 1). Die Prüfung des Ausnahmefalls bleibt folglich entgegen der Ansicht der Beklagten nicht nur auf atypische Umstände des Einzelfalls beschränkt, sondern umfasst auch verfassungs- und unionsrechtliche Wertentscheidungen, denen die ausländerrechtliche Entscheidung nicht widersprechen darf. Ob ein Ausnahmefall vorliegt, unterliegt keinem Einschätzungsspielraum der Behörde, sondern ist gerichtlich in vollem Umfang überprüfbar. Zu den verfassungs-, unions- und völkerrechtlichen Gründen gehört neben dem Schutz von Ehe und Familie (Maor, ebd., Rn. 20f ff.; Zeitler, ebd., Nr. 4) der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Maor, ebd., Rn. 20, 20l; Zeitler, ebd., Nr. 6.1.) (zu beiden Gründen auch BVerwG, Urteil vom 27. August 1996 – BVerwG 1 C 8/94 –, BVerwGE 102, 12, juris Rn. 29, 38). [...]

33 Ein Ausnahmefall ergibt sich aber aus der Zusammenschau aller Umstände des vorliegenden Einzelfalles unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls.

34 Die Verurteilung des Stammberechtigten zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen ist am unteren Bereich des durch § 40 Abs. 1 Strafgesetzbuch, § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG gesteckten Bereichs angesiedelt (5 - 360 Tagessätze oder Freiheitsstrafe). Soweit das Aufenthaltsgesetz an anderen Stellen bestimmt, dass die Verurteilung zu einer Geldstrafe einen Anspruch ausschließt, zieht es selbst Untergrenzen (§ 18a Abs. 1 Nr. 7, § 25a Abs. 3, § 60a Abs. 2 S. 6, § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 6 AufenthG: 50 bzw. 90 Tagessätze; siehe § 12a Abs. 1 Nr. 2 StaG: 90 Tagessätze). Auch ohne ausdrückliche gesetzliche Untergrenze wird zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit der Folgen einer Geldstrafe eine solche Untergrenze in Literatur und Rechtsprechung angenommen. So wird für eine Ausweisung nach Verurteilung zu einer Geldstrafe wegen eines "nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoßes gegen Rechtsvorschriften" (§ 54 Abs. 1 Nr. 9 AufenthG) teils – unter Berufung auf die vorläufigen Anwendungshinweise zur alten Fassung der Ausweisungsvorschriften (Nr. 55.2.2.2. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 55 AufenthG) – von einer Untergrenze bis zu 30 Tagessätzen ausgegangen (so Bauer, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 54 AufenthG Rn. 95; Tanneberger/Fleuß, in: Kluth/Heusch, Beck’scher Online-Kommentar AusländerR, 24. Edition, Stand: 1. August 2019, § 54 AufenthG Rn. 118; Beichel-Benedetti, in: Huber: AufenthG, 2. Aufl. 2016, § 54 Rn. 35; ähnlich OVG des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 10. Oktober 2016 – 2 O 26/16 –, juris Rn. 12; a.A. VG Düsseldorf, Beschluss vom 25. Juni 2010 – 24 L 645/10 –, juris). Die Gesetzesbegründung ist insoweit unergiebig. So heißt es in der kurzen Begründung zum Ausschlussgrund des Abs. 3 Nr. 2 (BT-Drs. 19/2438, S. 24): "Der Familiennachzug ist ausgeschlossen, wenn derjenige, zu dem der Familiennachzug erfolgen soll, wegen einer schwerwiegenden Straftat verurteilt worden ist."

35 Für die Familienzusammenführung streitet vorliegend, dass der Stammberechtigte vor und nach der genannten Verurteilung straffrei gelebt hat, und dass seit dem Tatgeschehen bereits ein Jahr und neun Monate vergangen sind. Allein aufgrund der strafrechtlichen Ermittlungen und der späteren Verurteilung hat die Beklagte über den Ende September 2018 gestellten Antrag auf Familienzusammenführung zunächst nicht entschieden und dann wegen des dadurch bedingten Ausschlussgrundes die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 36a AufenthG verneint. Damit wurde der Familiennachzug bereits faktisch für etwa anderthalb Jahre verhindert.

36 Das gleichwohl bestehende generalpräventive Interesse an der Bekämpfung der Verbreitung von Drogen (zu dessen großer Bedeutung vgl. EGMR, Entscheidung vom 24. März 2015 – 37074/13 [Kerkez] –, juris, Rn. 29, juris m.w.N.; siehe auch EuGH, Urteil vom 23. November 2010 – C-145/09 [Tsakouridis] –, Rn. 42, NVwZ 2011, 22, und BVerwG, Urteil vom 14. Mai 2013 – BVerwG 1 C 13/12 –, NVwZ-RR 2013, 778, juris Rn. 12) tritt im vorliegenden Einzelfall hinter den Interessen der Familienzusammenführung zurück (siehe den Rechtsgedanken des § 27 Abs. 3 S. 2 AufenthG).

37 Dieses allgemeine staatliche Interesse an der Bekämpfung der Verbreitung von Drogen lässt sich dem Grunde nach mit anderen allgemeinen Interessen (Schonung der öffentlichen Kassen, Einhaltung der Einreisebestimmungen) vergleichen. Für den Fall eines solchen anderen allgemeinen Interesses, nämlich dem allgemeinen Interesse an der Schonung der öffentlichen Kassen durch das Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass (bei Erfüllung weiterer Voraussetzungen) bei Familien mit zumindest einem Familienmitglied mit deutscher Staatsangehörigkeit die Interessen von Kindern unter 13 Jahren vorrangig gegenüber dem allgemeinen Interesse sind (BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 – BVerwG 10 C 16/12 –, NVwZ 2013, 1493). Dieser Grundsatz lässt sich nach Ansicht der Kammer auf Fälle übertragen, in denen zur Familie zwar keine Person mit deutscher Staatsangehörigkeit, wohl aber eine Person gehört, der es ebenso wie deutschen Staatsangehörigen unzumutbar ist, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Dabei ist die Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, einer Person internationalen Schutz zuzuerkennen, nach § 6 S. 1 Asylgesetz (AsylG) für das Verwaltungsgericht verbindlich.

38 Unter Anwendung dieser Grundsätze ist im vorliegenden Einzelfall ein Ausnahmefall gegeben. Zwar gehört zur Familie der Klägerinnen keine Person mit deutscher Staatsangehörigkeit, dem Stammberechtigten ist es jedoch unzumutbar, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Nach der für das Verwaltungsgericht verbindlichen Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, ihm internationalen Schutz (in der Form des subsidiären Schutzes) zu zuerkennen, steht fest, dass diesem in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht (§ 4 Abs. 1 S. 1 AsylG) und dass er nicht in einem Drittstaat vor diesem Schaden sicher war (§ 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG); insoweit ist die Entscheidung des Bundesamtes in Bestandskraft erwachsen. Die Klägerin zu 2.) hat erst vor  wenigen Tagen das 7. Lebensjahr vollendet. Ihr Wohl als minderjähriges Kind ist daher gem. § 36a Abs. 2 S. 3 AufenthG besonders zu berücksichtigen (siehe auch Art. 10 Abs. 1 UN-Kinderrechtskonvention). [...]