VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 03.06.2020 - 11 S 427/20 - asyl.net: M28572
https://www.asyl.net/rsdb/M28572
Leitsatz:

Voraussetzung für den Eintritt der Fiktionswirkung/erfolgreicher Schulbesuch im Sinne von § 25a Abs. 1 S. 1 AufenthG:

"1. Ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, den ein Ausländer während eines laufenden Asylverfahrens und während Zeiten einer Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG stellt, löst die Erlaubnisfiktion des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht aus.

2. Beantragt in Baden-Württemberg ein Ausländer zur Sicherung der Durchführung eines auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels gerichteten Verwaltungsverfahrens die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes und ist für die Titelerteilung das Landratsamt in seiner Eigenschaft als untere Ausländerbehörde zuständig, ist passivlegitimiert das Land.

3. Die Entscheidung, ob sich das Land in einem solchen Fall im gerichtlichen Verfahren durch das Landratsamt oder durch das für die Durchführung der Abschiebung landesweit zuständige Regierungspräsidium Karlsruhe vertreten lässt, obliegt dem Land.

4. Ein Ausländer, der sich zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz im Besitz einer sogenannten Verfahrensduldung befindet, ist als "geduldet" im Sinne des § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG anzusehen.

5. Die einmalige Wiederholung einer Klassenstufe steht der Annahme eines erfolgreichen Schulbesuchs im Sinne des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht per se entgegen. Entscheidend ist eine wertende Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Asylverfahren, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Integration, Schulbesuch, erfolgreicher Schulbesuch, Zuständigkeit, Passivlegitimation, Duldung, Verfahrensduldung Fiktionswirkung, Aufenthaltsgestattung, Integrationsprognose, Jugendliche, Heranwachsende, Bleiberecht,
Normen: AufenthG § 81 Abs. 3 S. 1, AsylG § 55 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 25a, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Der am 10. April 2019 beim Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis eingegangene Antrag der Antragstellerin zu 3) auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG hat keine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG ausgelöst. Eine Fortbestandsfiktion nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG scheidet schon deshalb aus, weil die Antragstellerin zu 3) zu keinem Zeitpunkt und damit auch nicht am 10. April 2019 Inhaberin eines gültigen Aufenthaltstitels gewesen ist. Der Eintritt einer Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG oder einer Duldungsfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kommt ebenfalls nicht in Betracht. Zum Zeitpunkt der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis war der Aufenthalt der Antragstellerin zu 3) infolge des noch laufenden Asylverfahrens gestattet, vgl. § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Die Fiktionswirkung nach der - hier allenfalls in Betracht kommenden - Regelung des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist dadurch nicht ausgelöst worden. [...] Nach herrschender Ansicht, der sich der Senat unter Aufgabe der gegenteiligen Auffassung im Beschluss vom 5. September 2012 - 11 S 1639/12 -, juris Rn. 6, anschließt, löst ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, den ein Ausländer während eines laufenden Asylverfahrens und während Zeiten einer Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG stellt, die Erlaubnisfiktion des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht aus (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 11.09.2018 - 13 ME 392/18 -, juris Rn. 4; Bay. VGH, Beschluss vom 22.04.2016 - 19 ZB 15.318 -, juris Rn. 8; OVG Bremen, Beschluss vom 27.10.2009 - 1 B 224/09 -, juris Rn. 14; OVG NRW, Beschluss vom 17.03.2009 - 18 E 311/09 -, juris Rn. 2 ff.; Samel, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 81 AufenthG Rn. 37; Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, § 43 Rn. 13 <Stand: Juni 2014>; i.E. wohl auch Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 05.03.2020, § 81 AufenthG Rn. 91 ff.). In diesem Fall wird der Eintritt einer Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG durch die speziellen asylrechtlichen Bestimmungen von § 55 Abs. 2 und § 43 Abs. 2 Satz 2 AsylG eingeschränkt bzw. verdrängt. [...]

aa) Es erscheint überwiegend wahrscheinlich, dass der Antragstellerin zu 3) ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25a Abs. 1 AufenthG zusteht. Die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG steht dem nicht entgegen, da es sich bei der Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG um eine solche nach Maßgabe des Abschnitts 5 des Aufenthaltsgesetzes handelt. [...]

(b) Entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts ist die Antragstellerin zu 3) als geduldete Ausländerin im Sinne des § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG anzusehen.

Ein Ausländer ist geduldet, wenn ihm eine rechtswirksame Duldung erteilt worden ist oder er einen Rechtsanspruch auf Duldung hat (vgl. zu § 25b AufenthG BVerwG, Urteil vom 18.12.2019 - 1 C 34.18 -, juris Rn. 24). Nicht abschließend geklärt ist, ob darüber hinaus eine bestimmte "Qualität" der Duldung zu fordern ist, insbesondere ob auch eine rein verfahrensbezogene Duldung, die lediglich zur Absicherung des Verfahrens über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist, als Duldung im Sinne des § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG anzusehen ist. Die Frage ist in der Rechtsprechung einiger Obergerichte verneint worden (vgl. - teilweise zu § 25b AufenthG - Bay. VGH, Beschlüsse vom 13.05.2019 - 10 CE 19.811 -, juris Rn. 12, und vom 23.04.2018 - 19 CE 18.851 -, juris Rn. 25; Nds. OVG, Beschluss vom 28.05.2018 - 8 ME 31/18 -, juris Rn. 4; OVG B.-Bbg., Beschluss vom 11.01.2018 - OVG 11 S 98.17 -, juris Rn. 8; OVG NRW, Beschluss vom 19.10.2017 - 18 B 1197/17 -, juris Rn. 2; offenlassend VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18.05.2018 - 11 S 1810/16 -, juris Rn. 63). [...]

In Bezug auf die Beurteilung der Sach- und Rechtslage lässt sich dem Wortlaut des § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kein Anhaltspunkt dafür entnehmen, dass von dem allgemein maßgeblichen Zeitpunkt abzuweichen wäre. Insbesondere für eine Vorverlagerung des Duldungserfordernisses auf den Antragszeitpunkt ist nichts ersichtlich. Auch den Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 17/4401 S. 16, 19; BT-Drs. 18/4097, S. 23, 42) lässt sich hierzu nichts entnehmen. Ebenso wie im Anwendungsbereich des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfordern auch Normzweck und -struktur des § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht zwingend, dass die Duldung bzw. der Duldungsgrund schon bei Antragstellung vorliegen muss, mit der Folge, dass es unmöglich wäre, in den persönlichen Anwendungsbereich des § 25a AufenthG "hineinzuwachsen" (i.E. ebenso OVG B.-Bbg., Beschluss vom 04.03.2020 - 6 S 10/20 -, juris Rn. 9). [...]

Soweit der Aufenthalt der Antragstellerin zu 3) in der (deutlich länger andauernden) Zeit vom 25. Juli bis (einschließlich) 5. Dezember 2019 weder gestattet noch (förmlich) geduldet war, dürfte es nicht zu einer anspruchsschädlichen Unterbrechung gekommen sein. Zeiträume, in denen dem Ausländer eine Duldung zwar nicht förmlich erteilt wurde, er aber einen Anspruch auf Duldungserteilung hatte, sind anzurechnen (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 19.03.2012 - 8 LB 5/11 -, juris Rn. 71; Zühlcke, in: HTK-AuslR, § 25a AufenthG Rn. 57 <Stand: 23.1.2020>; Röcker, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 25a AufenthG Rn. 11). [...]

(d) Des Weiteren dürfte die Antragstellerin zu 3) seit über vier Jahren erfolgreich eine Schule im Bundesgebiet besuchen. Ein erfolgreicher Schulbesuch liegt vor, wenn zu erwarten ist, dass der Schüler die Schule mindestens mit einem Hauptschulabschluss beenden wird. Maßgeblich für die Prognose sind die bisherigen schulischen Leistungen, die Regelmäßigkeit des Schulbesuchs, die Versetzung in die nächste Klassenstufe sowie das Arbeits- und Sozialverhalten (vgl. OVG Sachs.-Anh., Beschluss vom 17.10.2016 - 2 M 73/16 -, juris Rn. 4; Nds. OVG, Urteil vom 19.03.2012 - 8 LB 5/11 -, juris Rn. 72; Röcker, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 25a AufenthG Rn. 12; ferner BT-Drs. 17/5093, S. 15 sowie BT-Drs. 18/4097, S. 42).

Nach diesen Maßstäben ist - entgegen der Auffassung des Antragsgegners - ein erfolgreicher Schulbesuch der Antragstellerin zu 3) durchaus erkennbar. In der Zeit vom 2. Februar 2015 bis 30. Juli 2017 war sie Schülerin der ...-Schule, einer Gemeinschaftsschule in ..., wo sie in den ersten Monaten die Förderklasse besuchte und später in die Regelklasse integriert wurde. An der ...-Schule ist sie zum Ende der Schuljahre stets in die nächsthöhere Klasse versetzt worden. Im Schuljahr 2017/18 war die Antragstellerin zu 3) Schülerin der ..., wo ihr die Versetzung in die - nunmehr - 9. Klasse nicht gelungen ist. Seit dem Schuljahr 2018/19 besucht die Antragstellerin zu 3) die Hauptschule der ...-Schule in ..., wo sie zunächst die 8. Klasse wiederholte und derzeit (Schuljahr 2019/20) die 9. Klasse besucht. Verhalten und Mitarbeit wurden im Schuljahr 2016/17 jeweils mit "gut" und im Schuljahr 2017/18 jeweils mit "befriedigend" bewertet. Im Schuljahr 2018/19 und im ersten Halbjahr 2019/20 wurde ihr Sozialverhalten stets mit "befriedigend" und ihr Arbeitsverhalten zunächst ebenfalls mit "befriedigend" sowie zuletzt mit "ausreichend" bewertet. Die 20 Schulstunden umfassende Projektprüfung (im Rahmen der Hauptschulabschlussprüfung) im ersten Halbjahr 2019/20 hat sie mit der Note "gut" abgeschlossen. Im ersten Halbjahr 2018/19 hat sie fünf Tage und sechs Stunden gefehlt (davon fünf Tage und eine Stunde unentschuldigt), im zweiten Halbjahr 2018/19 sechs Tage und vier Stunden (davon fünf Tage unentschuldigt) und im ersten Halbjahr 2019/20 zwei Tage und vier Stunden (davon ein Tag und zwei Stunden unentschuldigt). [...]