VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 10.06.2020 - 9 K 2584/19.A - asyl.net: M28575
https://www.asyl.net/rsdb/M28575
Leitsatz:

Keine Unterbrechung der Dublin-Überstellungsfrist bei Aussetzung des Verfahrens wegen Corona-Pandemie:

Die behördliche Aussetzung der Vollziehung der Überstellungsentscheidung "bis auf weiteres" aufgrund der massiven Ausbreitung des Corona-Virus führt nicht zur Unterbrechung der Überstellungsfrist im Dublin-Verfahren. Sie ist unionsrechtswidrig, da sie nicht dem Rechtsschutzinteresse der Betroffenenen dient, sondern lediglich eine Reaktion darauf darstellt, dass eine Abschiebung nach Italien tatsächlich nicht stattfinden kann. Das Risiko der Unmöglichkeit der Überstellung liegt aber in der Risikospähre des ersuchenden Mitgliedsstaats.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 15.05.2020 - 10 A 596/19 - asyl.net: M28449)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Corona-Virus, Aussetzung der Vollziehung, Italien, Abschiebungsanordnung, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Überstellungsfrist, Fristverlängerung, Aussetzung des Verfahrens, Fristablauf,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Bst. a, VO 604/2013 Art. 27 Abs. 3, VO 604/2013 Art. 27 Abs. 4, VO 604/2013 Art. 28, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2 S. 1, VwGO § 80 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Die seitens der Beklagten am 25. März 2020 erklärte Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung hat den Beginn dieser Frist zuletzt ebenfalls nicht erneut nach hinten verschoben. [...]

Nach diesen Maßstäben erweist sich die Aussetzungsentscheidung im vorliegenden Fall als unionsrechtswidrig.

Dies folgt bereits daraus, dass die Aussetzungsentscheidung hier nicht dazu dient, dem Kläger effektiven Rechtsschutz zu gewähren, indem eine Prüfung der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung in einem anhängigen Rechtsbehelf ermöglicht wird. Das Fehlen einer solchen Zielsetzung wird schon daran deutlich, dass die Aussetzung nicht – wie von Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO grundsätzlich vorgesehen – bis zum Abschluss eines solchen Rechtsbehelfs, sondern lediglich "bis auf weiteres" und unter "Vorbehalt des Widerrufs" erfolgt ist und sich die Beklagte mithin offenhält, diese Entscheidung noch während des laufenden Verfahrens wieder aufzuheben (vgl. Schleswig-Holsteinisches VG, Urteil vom 15. Mai 2020 - 10 A 596/19 -, juris, Rn. 20; Gerichtsbescheid vom 18. Mai 2020 - 5 A 255/19 -, juris, Rn. 19).

Auch objektiv hat die Aussetzungsentscheidung keine Sicherung der Effektivität des durch den Kläger mit der vorliegenden Klage eingelegten Rechtsbehelfs zur Folge. Denn angesichts der Covid-19 Pandemie sowie der Erklärung Italiens, bis auf weiteres keine Dublin-Überstellungen mehr anzunehmen, droht zurzeit ohnehin keine Überstellung des Klägers. Umgekehrt behält sich die Beklagte gerade vor, die Aussetzungsentscheidung aufzuheben, sobald eine Überstellung wieder möglich ist – mithin genau zu dem Moment, in dem wieder ein Bedürfnis des Klägers nach Sicherung der Effektivität seines Hauptsacherechtsbehelfs entstünde. Hinzu tritt zuletzt, dass die Überstellungsfrist im konkreten Einzelfall zum Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung nur noch wenige Tage lief und eine Überstellung des Klägers in diesem Zeitraum nach Kenntnis des Gerichts nicht geplant war. Folglich hätte dem Kläger wahrscheinlich selbst dann keine Überstellung mehr gedroht, wenn solche Überstellungen grundsätzlich noch möglich gewesen wären.

Unter diesen Umständen trägt eine Aussetzungsentscheidung offenkundig alleine dem Umstand Rechnung, dass sich eine Überstellung nach Italien zurzeit als unmöglich erweist. Der hiermit seitens der Beklagten alleine beabsichtigten Verlängerung der Überstellungsfrist steht mithin keine Rechtsschutzerwägung gegenüber, welche einen derartigen Eingriff in den für das Dublin-System zentralen Beschleunigungsgedanken und die Interessen des Asylantragstellers rechtfertigen könnte (vgl. Schleswig-Holsteinisches VG, Urteil vom 15. Mai 2020 - 10 A 596/19 -, juris, Rn. 20; Gerichtsbescheid vom 18. Mai 2020 - 5 A 255/19 -, juris, Rn. 16).

Dies gilt auch vor dem Hintergrund der – ebenfalls zu beachtenden – (BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 27) Interessen des zuständigen Mitgliedstaats. Denn keine Vorschrift der Dublin-III-VO erlaubt für den Fall der aktuellen Covid-19 Pandemie, vom Zuständigkeitsübergang nach Ablauf der in Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO vorgesehenen Frist abzuweichen (vgl. ebenso Europäische Kommission, COVID-19: Hinweise zur Umsetzung der einschlägigen EU-Bestimmungen im Bereich der Asyl- und Rückführungsverfahren und zur Neuansiedlung vom 17. April 2020, 2020/C 126/12, S. 5).

Ebenso wie in individuell gelagerten Fällen (vgl. EuGH, Urteil vom 16. Februar 2017 - C-578/16 PPU -, juris, Rn. 89) fällt das Risiko einer Unmöglichkeit der Überstellung nach der Systematik der Dublin-III-VO mithin auch in derartigen Konstellationen in die Sphäre des ersuchenden Mitgliedstaats. Greift der ersuchende Mitgliedstaat – im hiesigen Fall die Beklagte – nunmehr jedoch in einer Vielzahl von Verfahren pauschal auf Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO zurück, führt dies zu einer nicht mit den Zielsetzungen des Dublin-Systems zu vereinbarenden Risikoverlagerung auf den zuständigen Mitgliedstaat. [...]

Denn da die Beklagte als Grund für ihre Aussetzungsentscheidung angibt, dass eine Überstellung aufgrund der Covid-19 Pandemie derzeit nicht möglich sei, räumt sie zumindest implizit ein, dass es auch aus ihrer Sicht zurzeit an den Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsanordnung fehlt (vgl. Schleswig-Holsteinisches VG, Gerichtsbescheid vom 18. Mai 2020 - 5 A 255/19 -, juris, Rn. 18). [...]