OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.03.2018 - 18 E 30/18 - asyl.net: M28604
https://www.asyl.net/rsdb/M28604
Leitsatz:

Behördliche Überprüfung der Reisefähigkeit muss nicht durch Fachärzt*in erfolgen:

1. Bei der Überprüfung der Reisefähigkeit kommt es nicht auf die Begutachtung einer Erkrankung, sondern auf die Einschätzung an, ob und mit welchen Vorsorgemaßnahmen trotz der in vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen attestierten Erkrankungen eine Abschiebung stattfinden kann. 

2. An die behördlich veranlasste Überprüfung sind deshalb nicht dieselben Anforderungen zu stellen wie an die Widerlegung der in § 60a Abs. 2c S. 2 AufenthG vermuteten Reisefähigkeit. Sie kann somit auch von Ärzt*innen durchgeführt werden, die keine Facharztausbildung in dem Fachgebiet der Erkrankung der Betroffenen haben. Wird die Reisefähigkeit wegen einer psychischen Erkrankung überprüft, muss dies nicht durch einen Facharzt oder eine Fachärztin für Psychiatrie erfolgen. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebung, vorläufiger Rechtsschutz, Sachverständigengutachten, Reisefähigkeit, Attest, Facharzt,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2c S. 2, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Jedenfalls auf der Grundlage des Schreibens des Antragsgegners vom 12. Juli 2017 ist davon auszugehen, dass der Arzt lediglich damit beauftragt wird, festzustellen, ob die geltend gemachten körperlichen und psychischen Erkrankungen einer Reisefähigkeit der Antragstellerin entgegenstehen und die Reisefähigkeit möglicherweise mit begleitenden Vorsorgemaßnahmen hergestellt werden kann. Erfolgt die Begutachtung damit nicht mit dem Ziel, das Vorliegen einer psychischen Erkrankung festzustellen, sondern ausschließlich dazu, zu klären, ob die Antragstellerin trotz ihrer auch (geltend gemachten) psychischen Erkrankungen reisefähig ist, ist die Beauftragung eines Facharztes (Psychiaters) nicht zwingend notwendig (vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 8. Februar 2018 - 18 B 1285/17 - (n.v.) und vom 24. Februar 2006 - 18 A 916/05 -, juris, Rn. 28).

Es ist nichts dafür ersichtlich, dass Prof. Dr. ... angesichts dieser (beschränkten) Fragestellung und seiner bereits gesammelten Erfahrungen bei der Anfertigung von Gutachten für Ausländerbehörden im vorliegenden Fall die Sachkunde etwa zur Beurteilung erforderlicher Begleitmaßnahmen bei etwa akut drohender Suizidgefahr oder drohender psychischer Dekompensation fehlt. Dies gilt zumal deshalb, weil er auch Facharzt für öffentliches Gesundheitswesen ist und die Weiterbildung hierzu eine sechsmonatige Weiterbildung in Psychiatrie und Psychotherapie beinhaltet (vgl. speziell zu Prof. Dr. ... OVG NRW, Beschlüsse vom 8. Februar 2018 - 18 B 1285/17 - (n.v.)).

Einer fachärztlichen (psychiatrischen) Begutachtung bedarf es zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber auch deshalb nicht, weil Prof. Dr. ... jedenfalls dann, wenn er sich in einem von ihm anzufertigenden Gutachten veranlasst sehen sollte, sich mit qualifizierten fachärztlichen Befundberichten oder Gutachten kritisch auseinanderzusetzen, erkennen lassen muss, auf Grund welcher Umstände er etwa die Frage einer akuten Suizidgefahr oder einer abschiebungsbedingten psychischen Dekompensation anders und besser als der Facharzt in den fachärztlichen Stellungnahmen beurteilen kann (vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 18. Dezember 2017 - 19 CE 17.1541 -, juris, Rn. 25; OVG B.-B., Beschluss vom 8. Oktober 2015 - 112 S 60.15 -, juris, Rn. 3).

Das Gericht könnte sich in einem solchen Fall nur dann auf seine Beurteilung stützen, wenn es keine Zweifel an der dafür erforderlichen Sachkunde hat und die Ausführungen im Übrigen stimmig und nachvollziehbar sind.

Aus den obigen Erwägungen folgt zugleich, dass an die behördlicherseits veranlasste ärztliche Überprüfung der Reisefähigkeit nicht dieselben Anforderungen zu stellen sind, wie an die Widerlegung der in § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG vermuteten Reisefähigkeit. Nach der Intention des Gesetzgebers soll die gesetzliche Vermutung der Reisefähigkeit besonders im Fall schwer diagnostizier- und überprüfbarer psychischer Erkrankungen nur durch eine qualifizierte Bescheinigung einer gravierenden Erkrankung widerlegt werden können. Mit dieser Regelung soll den in der Vergangenheit aufgetretenen erheblichen praktischen Problemen bei der Bewertung der Validität von ärztlichen Bescheinigungen im Vorfeld einer Abschiebung Rechnung getragen werden (vgl. BT-Drs. 18/7538, S. 19).

Demgegenüber kommt es bei der Beurteilung der Reisefähigkeit – wie ausgeführt – nicht bzw. weniger auf die fachärztliche Expertise des Verlaufs und der Behandelbarkeit der Erkrankung an, sondern eher auf die (notfallmedizinische) Einschätzung, inwieweit unter Berücksichtigung der vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen und der darin attestierten Erkrankungen gleichwohl eine Abschiebung verantwortet werden kann (vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 18. Dezember 2017 - 19 CE 17.1541 -, juris, Rn. 25). [...]