VG Frankfurt/Oder

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Zitieren als:
VG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 16.07.2020 - 4 L 331/19.A - asyl.net: M28685
https://www.asyl.net/rsdb/M28685
Leitsatz:

Eilrechtsschutz trotz behördlicher Aussetzung des Vollzugs wegen Corona-Pandemie; keine Verlängerung der Überstellungsfrist wegen offenem Kirchenasyl:

1. Für einen Eilrechtsantrag mit dem Ziel, den Dublin-Bescheid wegen Ablauf der Überstellungsfrist aufzuheben, besteht ein Rechtsschutzbedürfnis, auch wenn die Behörde die Vollziehung der Überstellungsentscheidung im Hinblick auf die Corona-Pandemie "bis auf weiteres" ausgesetzt hat und diese Entscheidung noch nicht widerrufen wurde. Denn das Begehren der Betroffenen geht über die lediglich temporäre behördliche Vollzugsaussetzung hinaus, da die Aussetzung für die Dauer des gesamten Hauptsacheverfahrens begehrt wird (unter Bezug auf BVerfG, Beschluss vom 10.06.2020 - 2 BvR 297/20, ähnlich 2 BvR 11/20 und 2 BvR 2389/18 - asyl.net: M28596).

2. Die Dublin-Überstellungsfrist verlängert sich nicht auf 18 Monate, weil sich eine Person im offenen Kirchenasyl befindet, auch wenn das Härtefalldossier zuvor abgelehnt wurde. Denn den Behörden ist der Aufenthaltsort der betroffenen Person bekannt, so dass diese nicht "flüchtig" im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO ist (unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 Jawo gg. Deutschland - Asylmagazin 5/2019, S. 196 ff. - asyl.net: M27096; siehe auch BVerwG, Beschluss vom 08.06.2020 - 1 B 19.20 - asyl.net: M28657).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Corona-Virus, Spanien, Aussetzung der Vollziehung, Suspensiveffekt, Abschiebungsanordnung, Rechtsschutzinteresse, Überstellungsfrist, Kirchenasyl, flüchtig, Überstellungsfrist
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Bst. a, VwGO § 80 Abs. 4, VwGO § 80 Abs. 5, VwGO § 80 Abs. 7, VwGO § 80b Abs. 1 S. 2, AsylG § 34a Abs. 1 S. 1, VO 604/13 Art. 29 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2 S. 2 Alt. 2
Auszüge:

[...]

Dem Antragsteller fehlt es auch nicht deswegen an einem Rechtsschutzbedürfnis, weil das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) mit Schreiben vom 31. März 2020 die Vollziehung der angefochtenen Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO i. V. m. Art 27 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedsstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. EU L 180 vom 29. 6. 2013, S. 31) - sog. Dublin-III-Verordnung – im Hinblick auf die Corona-Krise und der aus Sicht der Antragsgegnerin temporär nicht zu vertretenen Dublin-Überstellungen bis auf Widerruf ausgesetzt hat. Die gerichtliche Entscheidung erscheint für den Antragsteller weder von vornherein deshalb nutzlos, weil die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zu keiner Verbesserung der Rechtsstellung des Antragstellers führen würde, noch wäre ohne die hier begehrte Entscheidung gem. § 80 Abs. 7 VwGO eine Vollziehung des Verwaltungsaktes ausgeschlossen (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 10. Juni 2020 – 2 bvR/297/20 – juris Rn 14 m.w.N.). Abgesehen davon, dass das Bundesamt – wie dem erkennenden Gericht aus anderen sog. Dublin-Verfahren bekannt ist - die behördliche Aussetzungen der Anordnungen der Abschiebungen nach Spanien inzwischen widerruft, geht das Begehren des Antragstellers weiter als die temporäre behördliche Vollziehungsaussetzung vom 31. März 2020, weil mit diesem die Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Abschiebungsanordnung für die Dauer des gesamtem Hauptsacheverfahrens begehrt wird. [...]

Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ist in Ansehung des vorliegenden Kirchenasyls keine Möglichkeit der Fristverlängerung nach Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung eingetreten. Gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Var. 2 Dublin-III-Verordnung kann die Überstellungsfrist auf bis zu 18 Monate verlängert werden, wenn die asylantragstellende Person flüchtig ist. Hieran fehlt es vorliegend, da allein der Umstand, dass sich der Antragsteller der Überstellung entziehen wollte und sich dazu in das (offene) Kirchenasyl begeben hat, nicht bereits dazu führt, dass er "flüchtig" im Sinne dieser Bestimmung war. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist geklärt, dass ein Antragsteller "flüchtig" i.S.d. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-Verordnung ist, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Dies kann angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil ein Asylantragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegende Pflichten unterrichtet wurde (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 - juris Rn. 70). Hiernach kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein Asylantragsteller, der sich in das Kirchenasyl begeben hat, flüchtig ist, wenn - wie im vorliegenden Fall des Antragstellers - den Behörden dessen ladungsfähige Anschrift bekannt ist (sog. offenes Kirchenasyl, vgl. OVG Berlin-Brandenburg, OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 12. Juni 2020 – OVG 11 N 46/20 -, juris und vom 25. Februar 2020 - OVG 3 N 10/20 - juris; BayVGH, Urteil vom 12. Februar 2020 - 14 B 19.50010.00 - juris; OVG Bremen, Beschluss vom 18. September 2019 - 1 LA 246/19 - juris; HessVGH, Beschluss vom 12. September 2019 - 6 A 1495/19.Z.A - juris; OVG NW, Beschluss vom 5. September 2019 - 13 A 2890/19.A - juris; NdsOVG, Beschluss vom 25. Juli 2019 - 10 LA 155/19 - juris).

Das Bundesamt verkennt, dass es für die Frage des Flüchtigseins nicht etwa auf ordnungsrechtliche Aspekte z.B. eines Verstoßes gegen die räumliche Aufenthaltsbeschränkung oder die Wohnsitzverpflichtung, sondern allein darauf ankommt, ob die Abwesenheit der betroffenen Person tatsächlich und nach ihrer Zielrichtung dazu geeignet ist, eine Überstellung zu vereiteln. Eine solche Situation liegt in den Fällen des offenen Kirchenasyls allenfalls dann vor, wenn die Durchführung einer Überstellung erkennbar, sei es durch das Verhalten der zu überstellenden Person oder durch andere Umstände, verhindert oder derart erschwert wird, dass sie nicht (mehr) durchführbar ist. Zwar mag das Kirchenasyl darauf abzielen, Überstellungsversuche zu erschweren; es können freilich auch Gründe anderer Art vorliegen, weshalb Asylantragsteller das Kirchenasyl in Anspruch nehmen (vgl. dazu VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 19. März 2020 – VG 2 K 95/20.A, juris Rn 20, bestätigt durch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. Juni 2020 – OVG 11 N 46/20, juris). [...]