VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 17.08.2020 - 1 K 27/18.A - asyl.net: M28775
https://www.asyl.net/rsdb/M28775
Leitsatz:

Weder internationaler Schutz noch Abschiebungsverbot für Person aus Somalia:

"1. Die Kampfhandlungen in der Region Lower Juba/Somalia sind als bewaffneter innerstaatlicher Konflikt i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu qualifizieren.

2. Der den innerstaatlichen bewaffneten Konflikt in der Region Lower Juba kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt erreicht kein so hohes Niveau, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei ihrer Rückkehr dorthin allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt zu sein. Die hierfür erforderliche Gefahrendichte ist in der Region Lower Juba nicht gegeben."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Somalia, Südsomalia, Lower Juba, subsidiärer Schutz, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Zivilperson, ernsthafter Schaden, Zivilbevölkerung, willkürliche Gewalt, Existenzgrundlage, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Al-Shabaab, Jubbada Hoose,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 S. 1, AsylG § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

B) Die Klage ist aber unbegründet. Dem Kläger steht weder ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch ein Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus oder auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. [...]

1. Die vom Kläger geschilderten Ereignisse vor seiner Ausreise aus Somalia begründen keine Vorverfolgung. Das Gericht vermag sich nicht davon zu überzeugen (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass diese Vorkommnisse sich tatsächlich wie von ihm geschildert ereignet haben. Vielmehr ist das Gericht aus den nachstehend dargelegten Gründen davon überzeugt, dass sein diesbezügliches Vorbringen nicht glaubhaft ist: [...]

II. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus. [...]

1. Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung lässt sich nicht (mehr) feststellen, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Buulo Haji, Region Lower Juba, infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgesetzt sein wird. [...]

d) Bei Anlegung des vorstehend dargelegten Maßstabs liegen die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG für Buulo Haji und die Region Lower Juba im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht (mehr) vor. Zwar herrscht dort weiterhin ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt [aa)]. Jedoch geht von diesem Konflikt im Falle der Rückkehr des Klägers dorthin keine ernsthafte individuelle Bedrohung für ihn aus, weil ihm dort aufgrund dieses Konflikts nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Schaden an Leib oder Leben droht [bb)].

aa) In Buulo Haji herrscht wie in der gesamten Region Lower Juba weiterhin ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. In diesem Konflikt stehen sich die von der Hawiye-Clanfamilie dominierte somalische Armee (Somali National Armed Forces - SNAF), die somalische Polizei (Somali Police Forces - SPF), somalische Truppen zur Terrorismusbekämpfung (National Intelligence and Security Agency - NISA), Truppen der Friedensmission der Afrikanischen Union in Somalia (AMISOM) und Truppen des Regionalstaats Jubbaland auf der einen Seite und Kämpfer der al-Shabaab auf der anderen Seite gegenüber. Darüber hinaus kommt es auch zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen verschiedener Clans. [...]

(3) Aufgrund der vorstehend dargestellten Sicherheitslage in der Region Lower Juba sind die dort herrschenden bewaffneten Konflikte als bewaffneter innerstaatlicher Konflikt i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu qualifizieren. [...]

Ausschlaggebend hierfür sind die Gesamtzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle sowie die anhaltenden Zusammenstöße zwischen somalischen Sicherheitskräften und AMISOM-Truppen einerseits und Kämpfern der al-Shabaab andererseits sowie die anhaltenden Kämpfe zwischen Clanmilizen. Dabei geht das Gericht davon aus, dass sowohl die Zahl der Vorfälle als auch die der Todesopfer nicht vollständig und die Zahl der Verletzten überhaupt nicht erfasst wird [s.u. bb) (2)].

bb) Von dem in der Region Lower Juba und Buulo Haji weiterhin herrschenden innerstaatlichen bewaffneten Konflikt geht im Falle der Rückkehr des Klägers dorthin keine ernsthafte individuelle Bedrohung für ihn aus.

(1) Gefahrerhöhende Umstände in der Person des Klägers liegen nicht vor. Er gehört zu keiner Gruppe, die in Buulo Haji einem erhöhtem Risiko von Übergriffen ausgesetzt ist.

Bestimmte Personengruppen sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, Opfer eines Anschlags der Al-Shabaab zu werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie keine Steuern an al-Shabaab entrichten. Im Übrigen weisen die betroffenen Personen die Gemeinsamkeit auf, dass sie - aus Sicht der al-Shabaab - die somalische Regierung unterstützen. Hierzu gehören Angehörige der Sicherheitskräfte, Regierungsmitglieder und regierungsnahe Politiker, Regierungs- und Verwaltungsangestellte, Richter, Mitarbeiter von UN-Organisationen sowie von nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen einschließlich Mitarbeiter humanitärer Organisationen und Angehörige diplomatischer Missionen, aber auch Akteure der Zivilgesellschaft wie z.B. Friedensaktivisten, Clanälteste, Journalisten oder Geschäftsleute und Personen, die am letzten Wahlprozess mitgewirkt haben. [...]

Zu diesen Personen gehört der Kläger nicht. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Kläger in Buulo Haji anderweitig Gefahr läuft, ins Visier der al-Shabaab zu geraten. Aufgrund der von ihm geschilderten Ereignisse droht ihm dies - wie bereits unter I. dargelegt - jedenfalls nicht.

Gefahrerhöhende Umstände ergeben sich auch nicht daraus, dass der Kläger von einem längeren Auslandsaufenthalt zurückkehrt. [...]

(2) Der den innerstaatlichen bewaffneten Konflikt in der Region Lower Juba und Buulo Haji kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt erreicht kein so hohes Niveau, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei ihrer Rückkehr dorthin allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Die hierfür erforderliche Gefahrendichte ist in der Region Lower Juba und Buulo Haji nicht gegeben, auch wenn es dort - wie unter aa) (2) dargelegt - immer wieder zu bewaffneten Zwischenfällen kommt. [...]

(b) Andererseits ist in die Gesamtbewertung einzustellen, dass sich die meisten Aktionen von al-Shabaab nicht direkt gegen die "einfache" Zivilbevölkerung, sondern in erster Linie gegen Angehörige der Sicherheitskräfte, Regierungsmitglieder und regierungsnahe Politiker, Regierungs- und Verwaltungsangestellte, Richter, Mitarbeiter von UN-Organisationen sowie von nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen einschließlich Mitarbeiter humanitärer Organisationen und Angehörige diplomatischer Missionen, aber auch Akteure der Zivilgesellschaft wie z.B. Friedensaktivisten, Clanälteste, Journalisten oder Geschäftsleute und Personen, die am letzten Wahlprozess teilgenommen haben, richtet. [...]

Dürfte danach eine erhebliche Anzahl der zivilen Opfer den von al-Shabaab ins Visier genommenen Risikogruppen angehören, sinkt das Risiko für die "einfache" Zivilbevölkerung, Opfer eines solchen Anschlags zu werden, beträchtlich ab.

(c) Hinzu kommt, dass "einfache" Zivilisten, ihr Risiko, zufällig Opfer eines Anschlags zu werden, zwar nicht vollständig ausschließen, zumindest aber minimieren können, indem sie Gebiete oder Einrichtungen meiden, die von al-Shabaab bevorzugt angegriffen werden. Dazu gehören vor allem Hotels und Restaurants, in denen Angehörige der Streitkräfte, Mitglieder oder Mitarbeiter der Regierung oder Mitarbeiter internationaler Organisationen verkehren, Regierungseinrichtungen sowie Stellungen und Stützpunkte von Regierungskräften und AMISOM. [...]

cc) Die humanitäre Lage in Buulo Haji und der Region Lower Juba führt ebenfalls nicht dazu, dass dem Kläger subsidiärer Schutz zu gewähren ist. Aus dieser Lage ergeben sich keine zwingenden Gründe gegen eine Abschiebung des Klägers dorthin. Insbesondere ist das Gericht davon überzeugt, dass es ihm dort gelingen wird, für seine Grundbedürfnisse - Nahrung, Hygiene, Unterkunft - zu sorgen. [...]

(3) Trotz der vorstehend beschriebenen Umstände besteht in Somalia nach der gegenwärtigen Erkenntnislage keine derart prekäre humanitäre Situation, insbesondere keine derart unzureichende Versorgungslage, dass eine Rückführung dorthin in Anwendung des Art. 3 EMRK generell ausgeschlossen wäre. Vielmehr sind in jedem Einzelfall die persönlichen Umstände der betroffenen Person zu prüfen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Juli 2019 - A 9 S 1566/18 -, juris Rn. 44 ff. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie der obergerichtlichen Rechtsprechung in Deutschland).

Bei Anlegung dieses Maßstabs verstößt eine Rückführung des Klägers nach Buulo Haji nicht gegen Art. 3 EMRK. Der Kläger ist in Buulo Haji aufgewachsen und ist mit den dortigen Verhältnissen vertraut. Er ist jung, gesund und arbeitsfähig und verfügt bereits über Arbeitserfahrung in Buulo Haji als Helfer in einer Autowerkstatt. Zudem leben nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung seine Mutter und seine Geschwister sowie weitere Angehörige seiner Großfamilie in Buulo Haji, die ihn bei seiner Wiedereingliederung unterstützen können. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass seine Verwandten den Kläger entgegen der landesüblichen Gepflogenheiten nicht unterstützen werden, sind weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich. Schließlich kann der Kläger durch eine freiwillige Rückkehr nach Somalia über das Government Assisted Repatriation Programme (GARP) eine Starthilfe von 1.000,- € erlangen, die ihm seinen Lebensunterhalt zumindest für eine Übergangszeit sichert. [...]