OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 07.11.2019 - 3 S 111.19 - asyl.net: M28791
https://www.asyl.net/rsdb/M28791
Leitsatz:

Einstweilige Anordnung zur Erteilung einer Ausbildungsduldung:

1. Die Erteilung einer Ausbildungsduldung scheidet nach § 60c Abs. 2 Nr. 1 iVm § 60a Abs. 6 AufenthG aus, wenn aufenthaltsbeende Maßnahmen aus Gründen nicht vollzogen werden können, die die betroffene Person zu vertreten hat. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn durch unzureichende Mitwirkung bei der Beschaffung von Identitäts- und Reisedokumenten eine Abschiebung verhindert wird.

2. Eine vollziehbar ausreisepflichtige Person ist im Rahmen ihrer Mitwirkungspflichten gefordert, bezüglich ihrer Identität und Staatsangehörigkeit zutreffende Angaben zu machen, an allen zumutbaren Handlungen mitzuwirken, die die Behörden von ihr verlangen, und darüber hinaus eigeninitiativ ihr mögliche und bekannte Schritte in die Wege zu leiten, die geeignet sind, die Passlosigkeit zu beseitigen. Ist die geforderte Mitwirkungshandlung jedoch objektiv unmöglich, so kann eine Nichterfüllung der Person nicht entgegengehalten werden.

3. Es ist einer Person nicht entgegenzuhalten, dass sie bei der kenianischen Botschaft kein "Emergency Travel Document" beantragt hat, wenn die Ausstellung dieses Dokuments die Vorlage einer bestätigten Flugbuchung voraussetzt. Im Rahmen der Passbeschaffungsbemühungen ist die Person nicht verpflichtet, auf eigene Kosten eine Flugbuchung vorzunehmen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ausbildungsduldung, Arbeitserlaubnis, Mitwirkungspflicht, Passbeschaffung, Ausreise, Ausländerbehörde, Hinweispflicht, Kenia, Emergency Travel Document, Zumutbarkeit,
Normen: AufenthG § 60c Abs. 2 Nr. 1, AufenthG § 60a Abs. 6, AufenthG
Auszüge:

[...]

3 Die in dem angefochtenen Beschluss vertretene Auffassung, der Erteilung der beantragten Ausbildungsduldung stehe der zwingende Versagungsgrund des § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG entgegen, erweist sich auf der Grundlage der Beschwerdebegründung jedoch als nicht tragfähig.

4 Nach § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG darf einem Ausländer die Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht erlaubt werden, wenn aufenthaltsbeendende Maßnahmen bei ihm aus Gründen, die er selbst zu vertreten hat, nicht vollzogen werden können. Gemäß § 60a Abs. 6 Satz 2 AufenthG hat ein Ausländer die Gründe insbesondere zu vertreten, wenn er das Abschiebungshindernis durch eigene Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch eigene falsche Angaben selbst herbeiführt. Das Verwaltungsgericht hat diesen Versagungsgrund bejaht, weil der Antragsteller durch unzureichende Mitwirkung bei der Beschaffung eines Heimreisedokuments kausal seine Abschiebung verhindert habe. Denn er habe keine Bemühungen erkennen lassen, von der kenianischen Botschaft ein Laissez-Passer für die einmalige Einreise nach Kenia zu erhalten, das nach den Informationen der Botschaft als "Emergency Travel Document" unter den dort aufgeführten Voraussetzungen ausgestellt werde. Die Beantragung dieses Dokuments sei für den Antragsteller zumutbar. Auch habe der Antragsgegner den Antragsteller bereits mit Schreiben vom 28. Juni 2019 über die Mitwirkungspflicht bei der Beschaffung eines Heimreisedokuments belehrt und mit der Verwendung des Begriffs "Heimreisedokument" verdeutlicht, dass es nicht allein um einen Pass oder Passersatzpapier gehe, sondern ein Identitätspapier zur freiwilligen Erfüllung bzw. zwangsweisen Durchsetzung der Ausreiseverpflichtung beschafft werden solle.

5 Zwar kann grundsätzlich auch eine unzureichende Mitwirkung bei der Passbeschaffung einen Versagungsgrund nach § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG darstellen. Ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer ist im Rahmen der ihm obliegenden Mitwirkungspflichten gefordert, bezüglich seiner Identität und Staatsangehörigkeit zutreffende Angaben zu machen, an allen zumutbaren Handlungen mitzuwirken, die die Behörden von ihm verlangen, und darüber hinaus eigeninitiativ ihm mögliche und bekannte Schritte in die Wege zu leiten, die geeignet sind, seine Identität und Staatsangehörigkeit zu klären und die Passlosigkeit zu beseitigen. Die zuständige Ausländerbehörde ist dabei auch gehalten, in Erfüllung ihr selbst obliegender behördlicher Mitwirkungspflichten konkret zu bezeichnen, was genau in welchem Umfang vom Ausländer erwartet wird, wenn sich ein bestimmtes Verhalten nicht bereits aufdrängen muss. Sie muss gesetzliche Mitwirkungspflichten beispielsweise zur Beschaffung von Identitätspapieren konkret gegenüber dem Betroffenen aktualisiert haben, um aus der mangelnden Mitwirkung negative aufenthaltsrechtliche Folgen ziehen zu können. Unter Berücksichtigung der Regelbeispiele in § 60a Abs. 6 Satz 2 AufenthG muss eine mangelnde Mitwirkung ein gewisses Gewicht erreichen, so dass es gerechtfertigt erscheint, sie aktivem Handeln gleichzustellen (vgl. VGH München, Beschluss vom 9. Mai 2018 - 10 CE 18.738 - juris Rn. 6; OVG Magdeburg, Beschluss vom 18. September 2019 - 2 M 79/19 - juris Rn. 19). Ist die geforderte Mitwirkungshandlung jedoch objektiv unmöglich oder verspricht sie von vornherein keinen Erfolg, so kann ihre Durchführung nicht verlangt und eine Nichterfüllung dem Ausländer nicht entgegen gehalten werden (vgl. VGH München, Beschluss vom 28. April 2011 - 19 ZB 11.875 - juris Rn. 5; Bauer/Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 12. Aufl. 2018, AufenthG § 60a Rn. 54; vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14. September 2010 - OVG 3 B 2.08 - juris Rn. 34).

6 Auf dieser Grundlage kann im vorliegenden Fall - ungeachtet der Frage, ob der Wertung des Verwaltungsgericht beigetreten werden könnte, der Antragsgegner habe die Mitwirkungspflichten des Antragstellers bereits mit dem Schreiben vom 28. Juni 2019 hinreichend auch in Bezug auf die Beantragung eines Laissez-Passer konkretisiert - eine relevante Verletzung von Mitwirkungspflichten bei der Beschaffung eines Heimreisedokuments nicht angenommen werden. Der Antragsteller hat unstreitig bei der kenianischen Botschaft um Ausstellung eines Reisepasses nachgesucht, was indes aufgrund der fehlenden ID-Karte, die nach den vorgelegten Schreiben der Botschaft notwendige Voraussetzung hierfür wäre, abgelehnt wurde. Auch die Vorlage einer seitens des Antragstellers besorgten Kopie des Geburtszertifikats änderte hieran nichts. Die Beschaffung einer solchen ID-Karte ist ohne eine Rückkehr nach Kenia und über Stellvertreter nach den Angaben des Antragstellers, denen der Antragsgegner nicht entgegengetreten ist, nicht möglich. Dass der Antragsteller bei der kenianischen Botschaft bislang kein "Emergency Travel Document" beantragt hat, verstößt hingegen nicht gegen seine Mitwirkungspflicht, da ein solcher Antrag unter den gegebenen Umständen von vornherein ohne Aussicht auf Erfolg gewesen wäre. Nach den Informationen der Botschaft, die die Beteiligten wie auch das Verwaltungsgericht übereinstimmend zitieren, setzt die Ausstellung eines solchen Papiers neben anderem auch die Vorlage einer bestätigten Flugbuchung bzw. eines Flugscheines voraus. Jedenfalls über letzteres verfügte und verfügt der Antragsteller nicht. Der Antragsgegner hat ihm ein solches auch nicht zur Verfügung gestellt. Soweit das Verwaltungsgericht diesbezüglich anführt, dass der Antragsteller, sofern er nicht in der Lage sei, die Kosten für einen Flug nach Kenia selbst zu tragen, gehalten sei, sich über die Fördermöglichkeiten für die freiwillige Rückkehr zu informieren, vermag dies die fehlende konkrete Flugbuchung nicht zu beseitigen. Auch wenn sich der Antragsteller entsprechend informiert hätte, hätte dies ihn dennoch nicht in den notwendigen Besitz eines Flugtickets gebracht. Dass er im Rahmen der  Passbeschaffungsbemühungen verpflichtet gewesen wäre, selbst eine Flugbuchung - sei es auf eigene Kosten oder sei es mit finanzieller Unterstützung von dritter Seite - vorzunehmen, ist nicht erkennbar. [...]