OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 26.05.2020 - 1 LB 56/20 - asyl.net: M28792
https://www.asyl.net/rsdb/M28792
Leitsatz:

Zumutbarkeit der Inanspruchnahme internen Schutzes:

"1. Die Niederlassung an einem Ort kann i.S.d. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG "vernünftigerweise erwartet werden", wenn sie zumutbar ist. Der Maßstab der Zumutbarkeit ist unter Berücksichtigung der Zielrichtung des internationalen Schutzes zu bestimmen. Entscheidend ist somit, ob die interne Neuansiedlung unter Umständen möglich ist, die nicht in einem Maße schlecht sind, dass der Betroffene keinen anderen Ausweg sieht, als sich in Gebiete zu begeben, in denen ihm Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden droht.

2. Vor diesem Hintergrund sind an den Zumutbarkeitsmaßstab bzw. das Zumutbarkeitsniveau im Vergleich zu den Abschiebungsverboten wegen schlechter, nicht durch einen verantwortlichen Akteur verursachter humanitärer Verhältnisse nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und § 60 Abs. 7 AufenthG höhere Anforderungen zu stellen (a.A.: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 29.11.2019 - 1 A 11 S 2376/19, juris Rn. 49).

3. Ein Niederlassen am Ort des internen Schutzes ist dem Betroffenen daher nur zumutbar, wenn er dort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet, d.h. sein Existenzminimum gesichert ist. Die für einen internen Schutz erforderliche Sicherung des Existenzminimums muss zudem auf Dauer gewährleistet sein."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, nichtstaatliche Verfolgung, Taliban, Wardak, Maidan Wardak, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Zumutbarkeit, Niederlassen,
Normen: AsylG § 3e Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

[...]

Weder § 3e AsylG noch der diesem zugrundeliegende Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie nennen explizit maßgebliche Kriterien für die Feststellung, ob es für den Antragsteller tatsächlich zumutbar wäre, sich in einem Teil seines Herkunftslandes niederzulassen, der im Übrigen die sich aus dem Konzept des internationalen Schutzes ergebenden Anforderungen erfüllt.

Der Maßstab der Zumutbarkeit ist daher unter Berücksichtigung der Zielrichtung des internationalen Schutzes zu bestimmen. Entscheidend ist somit, ob die interne Neuansiedlung unter Umständen möglich ist, die nicht in einem Maße schlecht sind, dass der Betroffene keinen anderen Ausweg sieht, als sich in Gebiete zu begeben, in denen ihm Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden droht (ausführlich dazu VGH Bad.-Württ., Urt. v. 29.11.2019 - A 11 S 2376/19, juris Rn. 27 ff.). Mit dem Zumutbarkeitsniveau soll verhindert werden, dass der Betroffene sich letztlich gezwungen sieht, doch wieder seine Herkunftsregion aufzusuchen und sich damit gerade den Gefährdungen auszusetzen, wegen derer er zuvor auf die Möglichkeit internen Schutzes verwiesen worden war. Die entsprechenden Anforderungen dienen damit der Wahrung von Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention. Denn dieser verbietet Maßnahmen, die in irgendeiner Weise zu Refoulementgefahren führen, also gerade auch die Rückführung in unsichere Gebiete und Gebiete, in denen unzumutbare Lebensbedingungen bestehen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.10.2017 - A 11 S 512/17, juris Rn. 89).

Vor diesem Hintergrund ist das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass an den Zumutbarkeitsmaßstab bzw. das Zumutbarkeitsniveau im Vergleich zu den Abschiebungsverboten wegen schlechter, nicht durch einen verantwortlichen Akteur verursachter humanitärer Verhältnisse nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und § 60 Abs. 7 AufenthG höhere Anforderungen zu stellen sind (vgl. zu § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK: BayVGH, Urt. v. 06.07.2020 - 13a 18.32817, juris Rn. 65 m.w.N.; BayVGH, Urt. v. 08.11.2018 - 13a B 17.31960, juris Rn. 54 m.w.N.; VGH Bad.-Württ., Beschl.v. 08.08.2018 - A 11 S 1753/18, juris Rn. 22; Marx, ZAR 2017, 304 (306); vgl. zu § 60 Abs. 7 AufenthG: BVerwG, Urt. v. 31.01.2013 - 10 C 15/12, juris Rn. 20; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.10.2017 - A 11 S 512/17 Rn. 83; a.A. nunmehr: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 29.11.2019 - A 11 S 2376/19, juris Rn. 25). Das Kriterium der Zumutbarkeit, nämlich die Frage, ob vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sich ein Ausländer am Ort des internen Schutzes niederlässt, ist nicht mit dem Fehlen einer Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK gleichzusetzen. [...]

Wer vor Verfolgung oder vor dramatischen Lebensumständen flieht, die von einem Akteur i.S.d. § 3e AsylG zu verantworten sind, kann schon im Hinblick auf die beschriebene Refoulementgefahr nicht allein darauf verwiesen werden, dass er in dem als interne Schutzalternative in Betracht zu ziehenden Landesteil ein Leben am Rande des Existenzminimums führen könnte (BVerwG, Urt. v. 31.01.2013 - 10 C 15/12, juris Rn. 20). Die Zielsetzung des internationalen Schutzes, einen wirksamen Schutz vor Verfolgung und ernsthaften Schäden zu bieten (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 26.06.2019 - A 11 S 2376/19, juris Rn. 27 ff.) schließt es gerade aus, eine von Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden bedrohte Person auf eine interne Schutzalternative zu verweisen, deren Lebensbedingungen derart schlecht sind, dass das Existenzminimum nicht gewährleistet ist und daher ein dauerhafter Verbleib an diesem Ort nicht erwartet werden kann. Aus diesem Grund ist es entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (vgl. Urt. v. 29.11.2019 - A 11 S 2376/19, juris Rn. 49) gerechtfertigt, abhängig davon, ob einem Asylantragsteller am Ort seiner Herkunft eine relevante Gefahr im Sinne der §§ 3 und 4 AsylG droht, unterschiedliche Maßstäbe an die Zumutbarkeit der Niederlassung zu stellen.

Auch der unterschiedliche Wortlaut der Vorschriften spricht dafür, dass der Zumutbarkeitsmaßstab über die Anforderungen von § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK hinausgeht. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dagegen verlangt der Wortlaut von § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, um einen internen Schutzort anzunehmen, dass vernünftigerweise erwartet werden kann, dass man sich dort niederlässt. [...]

Diese Vorgaben sind in die Richtlinie übernommen worden, weshalb Art. 3 EMRK für die Bestimmung der Anforderungen nach § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG heranzuziehen ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 13.07.2017 - 1 VR 3/17, juris Rn. 114; VGH Bad.-Württ, Urt. v. 29.11.2019 - A 11 S 2376/19, juris Rn. 22, 25). Allerdings enthält Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU und in dessen Umsetzung auch § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG über die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte formulierten Anforderungen hinaus eine weitere Anforderung (a.A. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 29.11.2019 - A 11 S 2376/19, juris Rn. 45 ff.). Der Gerichtshof hat lediglich die Möglichkeit verlangt, sich am Ort des internen Schutzes niederzulassen ("must be able to […] settle there"). Die Richtlinie verlangt neben der Möglichkeit einer Niederlassung als weitere Voraussetzung, dass eine Niederlassung auch vernünftiger Weise erwartet werden kann ("can reasonably be expected to settle there"). Dieses Merkmal entstammt nicht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, sondern der Vorgängervorschrift des Art. 8 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG.

Ein Niederlassen am Ort des internen Schutzes ist dem Antragsteller daher nur zumutbar, wenn er dort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet, d.h. sein Existenzminimum gesichert ist. Im Falle fehlender Existenzgrundlage ist eine interne Schutzmöglichkeit nicht gegeben, auch dann nicht, wenn im Herkunftsgebiet die Lebensverhältnisse gleichermaßen schlecht sind (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 185). Die für einen internen Schutz erforderliche Sicherung des Existenzminimums muss zudem auf Dauer gewährleistet sein. Das folgt aus dem Begriff des "Niederlassens" ("settle"), der eine dauerhafte Wohnsitznahme an einem Ort bezeichnet.

Soll das Existenzminimum durch eine eigene Arbeitstätigkeit erwirtschaftet werden, muss die betroffene Person hinreichend verlässlich im zur Erwirtschaftung des Existenzminimums erforderlichen Umfang Beschäftigungsmöglichkeiten erlangen können.

Ausgehend von diesen Grundsätzen bietet ein verfolgungssicherer Ort erwerbsfähigen Personen das wirtschaftliche Existenzminimum in aller Regel dann, wenn sie dort, sei es durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige (dazu zählt neben Nahrung auch Wohnraum und Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung) erlangen können. Zu den danach zumutbaren Arbeiten gehören auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden können. Nicht zumutbar sind hingegen die entgeltliche Erwerbstätigkeit für eine kriminelle Organisation, die in der fortgesetzten Begehung von oder Teilnahme an Verbrechen besteht (BVerwG, Beschl. v. 13.07.2017 - 1 VR 3/17, juris Rn. 119; BVerwG, Urt. v. 01.02.2007 - 1 C 24.06, juris Rn. 11 m.w.N.) Nicht mehr zumutbar ist die Fluchtalternative, wenn der Asylsuchende an dem verfolgungssicheren Ort bei der gebotenen grundsätzlich generalisierenden Betrachtungsweise auf Dauer ein Leben zu erwarten hat, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tod führt, oder wenn er dort nichts Anderes zu erwarten hat als ein "Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums" (vgl. BVerwG, Urt. v. 01.02.2007 - 1 C 24.06, juris Rn. 11 m.w.N.; Beschl. v. 17.06.2006 - 1 B 100.05, juris Rn. 11 und Beschl. v. 21.05.2003 - 1 B 298.02, juris Rn. 3).

Aus der Zielsetzung, eine dauerhafte Wohnsitznahme zu gewährleisten, folgt außerdem, dass dem Ausländer durchgängig eine Unterkunft zur Verfügung stehen muss, die existenziellen Grundbedürfnissen, insbesondere dem Schutz vor schlechter Witterung, genügt.

Ob diese Voraussetzungen vorliegen, bedarf der Prüfung im Einzelfall (§ 3e Abs. 2 AsylG) unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte (darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage am Ort des internen Schutzes) und subjektiver Umstände (etwa Alter, Geschlecht, familiärer und biografischer Hintergrund einschließlich einer ggf. bestehenden Vorverfolgungssituation, Gesundheitszustand, finanzielle Situation bezogen auf Vermögen und Erwerbsmöglichkeiten sowie Leistungen aus Hilfsangeboten für Rückkehrer, Fähigkeiten/Ausbildung/Berufserfahrung, das Vorhandensein von tragfähigen Beziehungen/Netzwerken am Ort des internen Schutzes, Kenntnisse zumindest einer der am Ort des internen Schutzes gesprochenen Sprache, sowie ggf. auch die Volkszugehörigkeit u.a.; vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.10.2017 - A 11 S 512/17, juris Rn. 80). [...]