VG Halle

Merkliste
Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 17.08.2020 - 3 A 2/20 HAL - asyl.net: M28803
https://www.asyl.net/rsdb/M28803
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für regimekritischen Blogger aus Saudi-Arabien:

1. Personen in Saudi-Arabien, die öffentlich das Königshaus kritisieren, droht Verfolgung in Form von willkürlichen Festnahmen, Gefangenhalten ohne Gerichtsprozess, Gefängnisstrafen sowie Folter und Körperstrafen.

2. Einer Person, die sich wiederholt auf dem Nachrichtendienst Twitter unter einem ihm zuzuordnenden Account explizit gegen das Regime ausgesprochen hat, ist die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Saudi-Arabien, Twitter, Verfolgungshandlung, Regierungskritiker, politische Verfolgung, Badawi, Soziale Medien,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3a,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Asylgesetz (AsylG) i.V.m. § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Der dies ablehnende Bescheid der Beklagten vom 19. Oktober 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO). [...]

Dem Kläger droht nach Überzeugung des Gerichts im Falle seiner Rückkehr politische Verfolgung durch den Staat Saudi-Arabien, weil er seine Meinung öffentlich geäußert und sich dabei gegen die Regierung und gegen die Religion ausgesprochen hat.

Dem liegen folgende Feststellungen des Gerichts zum Staats- und Gesellschaftssystem in Saudi-Arabien zugrunde: In Saudi-Arabien besteht eine absolute Monarchie. Der Koran und die "Sunna" (Traditionen) bilden die Verfassung. Die Staatsreligion Islam, Stammestraditionen und die Familie sind die Grundpfeiler der saudi-arabischen Gesellschaft. Menschenrechte gelten in Saudi-Arabien nur unter Vorbehalt ihrer Vereinbarkeit mit der Scharia. Saudi-Arabien ist eines der Länder weltweit mit den meisten offiziellen Hinrichtungen. Folter und andere Misshandlungen sind an der Tagesordnung; Körperstrafen, beispielsweise Stockhiebe werden regelmäßig vollzogen. Hinrichtungen werden öffentlich vollzogen. Es gibt zahlreiche Berichte von willkürlichen Festnahmen und von dem Gefangenhalten von Personen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren über lange Zeiträume hinweg. Entgegen der saudi-arabischen Strafprozessordnung werden häufig Menschen länger als 6 Monate inhaftiert, ohne dass sie vor ein zuständiges Gericht gestellt werden (vgl. VG Magdeburg, Urteil vom 10. März 2020 -- 9 A 294/18 -, Rdnr. 25, juris). [...]

Angesichts dessen geht das Gericht davon aus, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Saudi-Arabien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Inhaftierung und Folter bis hin zur Todesstrafe drohen. Denn ausweislich der Ausdrucke seiner Twitter-Beiträge hat der Kläger in den Jahren 2017 und 2018 den Herrscher Saudi-Arabiens massiv kritisiert, indem er das saudische Regime als terroristisch und den Herrscher als bösartigen Lügner bezeichnet, die Änderung der Thronfolge als unrechtmäßig dargestellt, das Verhältnis zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika als unterwürfig karikiert und sich mit dem inhaftierten und öffentlich ausgepeitschten Schriftsteller Badawi solidarisiert hat. Darüber hinaus hat er in dieser Zeit die islamische Religion in Frage gestellt, indem er unter anderem deren Barmherzigkeit wegen ihres Umgangs mit einer abgebildeten jezidischen Frau bezweifelt. Die damit von ihm vertretene Meinung wird nach der Erkenntnislage vom Staat zum Anlass sowohl für die Anwendung physischer Gewalt als auch für eine unverhältnismäßige Bestrafung in Gestalt von Auspeitschungen und der Verurteilung zu langjährigen Haftstrafen genommen, ohne dass dem Betroffenen Schutzalternativen zur Verfügung stehen.

Über den hierfür genutzten Twitter-Account (...) hält die Kammer den Kläger auch für identifizierbar. [...]