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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 24.06.2020 - XIII ZB 9/19 - asyl.net: M28804
https://www.asyl.net/rsdb/M28804
Leitsatz:

Rechtswidrige Haftanordnung bei Verletzung des Beschleunigungsgebots:

1. Entspricht der Haftantrag nicht den Erfordernissen des § 417 Abs. 2 FamFG, kann der Mangel grundsätzlich im Beschwerdeverfahren geheilt werden. Bessert die Behörde entsprechend nach und erfolgt auch die notwendige erneute Anhörung der Person, so tritt die Heilung dennoch erst mit der Entscheidung durch das Beschwerdegericht ein. Bis dahin ist die vollstreckte Haft rechtswidrig.

2. Das Beschleunigungsgebot aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 und Art. 104 GG sowie analog Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verlangt, dass die Abschiebungshaft auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt wird und die Ausländerbehörde die Abschiebung ohne unnötige Verzögerung betreibt. Es ist verletzt, wenn die Behörde bei ungeklärter Identität der betroffenen inhaftierten Person nicht unverzüglich die vorliegenden Fingerabdruckblätter an die ausländischen Behörden zum Zwecke der Identitätsklärung weiterleitet.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Haftantrag, Mängel, Heilung, Beschleunigungsgebot, Ausländerbehörde, Algerien, Fingerabdrücke, Identitätsklärung, Verfahrensfehler, elektronische Fingerabdrücke,
Normen: FamFG § 417 Abs. 2, FamFG § 420, GG Art. 2 Abs. 2 S. 2, GG Art. 104, EMRK Art. 6 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

10 cc) Das bedeutet aber entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts nicht, dass die Heilung ohne weiteres schon mit dem Zugang eines entsprechenden Schriftsatzes der beteiligten Behörde bei dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen eintritt. Die Einreichung eines solchen Schriftsatzes ist vielmehr nur notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für die Heilung. Die Heilung von Antragsmängeln im Verfahren über die Beschwerde gegen eine Haftanordnung setzt vielmehr nach § 68 Abs. 3, § 420 FamFG eine erneute persönliche Anhörung des Betroffenen voraus (BGH, Beschlüsse vom 12. Oktober 2016 - V ZB 8/15, juris Rn. 9, und vom 20. September 2018 - V ZB 4/17, InfAuslR 2019, 23 Rn. 14), die das Beschwerdegericht hier auch durchgeführt hat. Die Heilung tritt nicht schon mit der persönlichen Anhörung, sondern erst mit der Entscheidung des Gerichts ein (BGH, Beschlüsse vom 25. Januar 2018 - V ZB 71/17, InfAuslR 2018, 218 Rn. 6, 9, vom 12. Juli 2018 - V ZB 184/17, Asylmagazin 2019, 78 Rn. 10, vom 22. August 2019 - V ZB 179/17, juris Rn. 21, und vom 22. August 2019 - V ZB 39/19, InfAuslR 2019, 454 Rn. 9). Der Mangel des Haftantrags der beteiligten Behörde ist deshalb erst mit der Entscheidung des Beschwerdegerichts am 15. November 2017 geheilt worden. [...]

12 aa) Das Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen verlangt, dass die Abschiebungshaft auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt wird und die Ausländerbehörde die Abschiebung ohne unnötige Verzögerung betreibt. [...]

15 (2) Die beteiligte Behörde hat das Beschleunigungsgebot allerdings durch die Verfahrensweise verletzt, die sie nach der Auskunft der marokkanischen Behörden vom 22. August 2017, die vorgelegten Fingerabdrücke des Betroffenen zeigten in den dortigen Datensätzen keine Entsprechung, wählte. Sie hat sich darauf beschränkt, den Betroffenen zur Ausfüllung des für die Beschaffung von Passersatzpapieren bei den algerischen Behörden benötigten Formulars aufzufordern, an seine Mitwirkungspflichten zu erinnern und ihn für den nächsten Sammelprüfungstermin bei den algerischen Konsularbehörden anzumelden, der etwa drei Monate später lag. Dieses Vorgehen entspricht den Anforderungen des Beschleunigungsgebots nicht. Richtig ist zwar, dass die beteiligte Behörde die Identifizierung des Betroffenen durch die algerischen Behörden nicht mit den in Art. 1 des Protokolls zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen Volksrepublik Algerien über die Identifizierung und die Rückübernahme vom 14. Februar 1997 (vorläufig angewandt seit dem 1. November 1999, gemäß Bekanntmachung vom 4. Dezember 2003, BGBl. 2004 II S. 16, in Kraft getreten am 12. Mai 2006 gemäß Bekanntmachung vom 2. November 2006, BGBl. II S. 1144 - Dt.-Alg. Rückführungsabkommen) vorgesehenen amtlichen algerischen Dokumenten nachweisen konnte. Daraus durfte die beteiligte Behörde aber nicht den Schluss ziehen, sie dürfe in Ermangelung von "Sachbeweisen" den nächsten Sammeltermin bei den algerischen Konsularbehörden in Deutschland am 21./23. November 2007 abwarten. Sie hatte die elektronischen Fingerabdrücke des Betroffenen, die ebenso wie gegenüber den marokkanischen Behörden auch gegenüber den algerischen Behörden als Mittel der Identifizierung des Betroffenen dienen konnten. Sie war nach Art. 2 Abs. 4 des Abkommens verpflichtet, diese Fingerabdrücke als Mittel der Glaubhaftmachung der Identität des Betroffenen den algerischen Behörden unverzüglich vorzulegen, die sie ebenso unverzüglich hätten prüfen müssen. Diese Möglichkeit hatte sie in dem zweiten Monat der am 20. Juli 2017 gegen den Betroffenen angeordneten ersten Haft ebenso wenig genutzt wie in den ersten beiden Monaten der Verlängerungshaft. Nach dem von der Behörde dargestellten Vorgehensplan war die Nutzung dieser sich aufdrängenden Beschleunigungsmöglichkeiten auch weiterhin nicht beabsichtigt. Auf dieser Grundlage hatte das Beschwerdegericht die Haft aufzuheben. Sie ist auch für den Zeitraum nach der Entscheidung des Beschwerdegerichts am 15. November 2017 rechtswidrig, was auf Antrag des Betroffenen festzustellen ist. [...]