VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 15.10.2019 - 19 CS 18.164 - asyl.net: M28856
https://www.asyl.net/rsdb/M28856
Leitsatz:

Auch vergangene Täuschungshandlung kann Aufenthalt bei nachhaltiger Integration ausschließen:

Eine nachhaltige Integration im Sinne des § 25b Abs. 1 S. 1 AufenthG ist anzunehmen, wenn die Regelvoraussetzungen des § 25b Abs. 1 S. 2 AufenthG vorliegen und keine Integrationsdefizite ersichtlich sind. Die Prüfung einer nachhaltigen Integration muss durch eine Gesamtschau der Umstände im Einzelfall erfolgen. In der Vergangenheit liegende Täuschungshandlungen können Integrationsdefizite darstellen. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Identitätstäuschung, Integration, Täuschung über Identität, Mitwirkungspflicht, Versagungsgrund,
Normen: AufenthG § 25b Abs. 1 S. 2, AufenthG § 25b Abs. 1 S. 1, AufenthG § 25b Abs. 2 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

9 [...] Ein zwingender Versagungstatbestand ist in dem Fall der von Abs. 2 Nr. 1 u.a. erfassten Identitätstäuschung nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut zwar nur dann gegeben, wenn diese gegenwärtig vorliegt; dies hat aber nicht zur Folge, dass zurückliegende Täuschungen generell unbeachtlich sind. Denn auch der Gesetzgeber geht davon aus, dass die Regelung des § 25b AufenthG "keine Amnestie für jegliches Fehlverhalten in den vorangegangenen Verfahren" darstelle, in der Vergangenheit liegende falsche Angaben sollen demnach nur bei "tätiger Reue" außer Betracht bleiben (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 53 f.) und sofern diese nicht allein kausal für die lange Aufenthaltsdauer gewesen sind (vgl. BT-Drs. 18/4097 S. 44).

10 Wie in der Vergangenheit spielende Täuschungshandlungen normsystematisch zu berücksichtigen sind, wird von den Gerichten uneinheitlich gesehen. Die wohl mehrheitliche obergerichtliche Rechtsprechung prüft einen "Ausnahmefall" (BT-Drs. 18/4097, S. 42), bei dem trotz Vorliegens der Regelvoraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 5 AufenthG von einer Titelerteilung abgesehen werden kann, auf der Tatbestandsseite (OVG NW, B.v. 21.7.2015 - 18 B 486/14 - juris Rn. 9 f. < im Rahmen des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG > und Rn. 15 < im Rahmen des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG >; jeweils ohne genaue normsystematische Unterscheidung innerhalb des § 25b Abs. 1 AufenthG: OVG Lüneburg, B.v. 4.9.2019 - 13 LA 146/19 - juris Rn. 8 f. und HessVGH, B.v. 18.6.2019 - 9 B 1165/19 - juris Rn. 28; wohl eher im Rahmen des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG: OVG LSA, B.v. 8.4.2019 - 2 M 30/19 - juris Rn. 5 und B.v. 23.9.2015 - 2 M 121/15 - juris Rn. 10). Teilweise wird die Berücksichtigungsfähigkeit vergangener Täuschungshandlungen im Rahmen des Tatbestandes des § 25b AufenthG verneint, das Verhalten aber bei der Prüfung eines Ausnahmefalles von der Regelerteilungsnorm des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG auf Rechtsfolgenseite berücksichtigt (OVG Hamburg, B.v. 19.5.2017 - 1 Bs 207/16 - juris Rn. 43; wohl auch Hailbronner, AuslR, April 2019, § 25b Rn. 9).

11 Nach Auffassung des Senats erfordert die Prüfung der nachhaltigen Integration des Ausländers i.S.d. § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG eine Prüfung aller Integrationsleistungen sowie aller Integrationsdefizite, wobei eine nachhaltige Integration anzunehmen ist, wenn die Regelvoraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG vorliegen und keine Integrationsdefizite ersichtlich sind. Die insoweit nicht widerspruchsfreie Gesetzesbegründung (vgl. hierzu OVG Hamburg, B.v. 19.5.2017 - 1 Bs 207/16 - juris Rn. 33 ff.), die für den Fall fehlender Regelvoraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 5 AufenthG, gleichzeitig aber anderer vorweisbarer positiver Integrationsleistungen eine "Gesamtschau der Umstände des Einzelfalles" anordnet (BT-Drs. 18/4097, S. 42), ist nicht dahingehend zu verstehen, dass bei vorliegenden Integrationsdefiziten eine Gesamtschau nicht anzustellen ist oder dass solche Integrationsdefizite selbst dann nicht berücksichtigt werden können, wenn eine Gesamtschau im Falle fehlender Regelvoraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 5 AufenthG ohnehin erforderlich ist. Dies widerspräche dem Sinn und Zweck der Norm, die grundsätzlich nur solche Ausländer begünstigen soll, die sich an Recht und Gesetz halten (BT-Drs. 18/4097, S. 45). Die Annahme einer nachhaltigen Integration i.S.d. § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist daher nur dann gerechtfertigt, wenn sich dies aus einer Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls ergibt. Diese Auffassung lässt sich der Gesetzesbegründung auch an anderer Stelle - im Rahmen der Ausführungen zu § 25b Abs. 2 Nr. 2 AufenthG - entnehmen, wonach bei Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 2 Nrn. 3 bis 6 ebenfalls regelmäßig keine nachhaltige Integration gegeben sein werde (BT-Drs. 18/4097, S. 45).

12 Maßgebend ist somit, ob die bei Erfüllung der in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 5 AufenthG normierten Voraussetzungen eingreifende Regelvermutung der nachhaltigen Integration widerlegt ist, weil im Einzelfall Integrationsdefizite festzustellen sind, die dazu führen, dass den erzielten Integrationsleistungen bei wertender Gesamtbetrachtung ein geringeres Gewicht zukommt (OVG NW, B.v. 21.7.2015 - 18 B 486/14 - juris Rn. 10). [...]