VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 18.09.2020 - 3 K 1150/18 - asyl.net: M28898
https://www.asyl.net/rsdb/M28898
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für vulnerable Familie mit internationalem Schutz in Malta:

1. Vulnerablen Personen (hier: eine Familie mit fünf minderjährigen Kindern), die in Malta internationalen Schutz erhalten haben, droht dort eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK, Art. 4 EU-GrCh.

2. Zurückkehrende international Schutzberechtigte werden in Malta in ihrer Schutzbedürftigkeit nicht erkannt. Doch selbst wenn dies der Fall wäre, würden sie nicht ihren Bedürfnissen entsprechend untergebracht.

3. Bei der Prognose, ob bei einer Rückkehr eine gegen Art. 3 EMRK, Art. 4 GrCh verstoßende Situation eintritt, sind die staatlich verantworteten Lebensverhältnisse, nicht aber kirchliche oder sonstige nichtstaatliche Unterstützungsmöglichkeiten maßgeblich.

4. Es bedarf einer konkret-individuellen Zusicherung; eine allgemeine Zusicherung ist nicht ausreichend.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Malta, internationaler Schutz in EU-Staat, besonders schutzbedürftig, Zusicherung, Abschiebungsverbot, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Die Kläger zählen als 7-köpfige Familie mit fünf minderjährigen Kindern zum sogenannten vulnerablen Personenkreis, für den hinsichtlich der Zumutbarkeit einer Rückführung in den Mitgliedstaat, der internationalen Schutz gewährt hat, besondere Anforderungen gelten. Hinzu kommt vorliegend, dass der Kläger zu 1. nachgewiesenermaßen unter einer erheblichen Einschränkung seiner Erwerbsfähigkeit leidet.

Das VG Magdeburg (Urteil vom 18.11.2019 - 8 A 57/19 -, juris) hat bezüglich der Rückführung verletzlicher anerkannter international Schutzberechtigter nach Malta ausgeführt: [...]

bb) Für die Gruppe der besonders verletzlichen Personen ergibt die weitere Gesamtwürdigung der für Malta vorliegenden Erkenntnisse, dass ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh beachtlich wahrscheinlich ist.

Eine der besonderen Situation der Familie des Klägers insgesamt Rechnung tragende Unterbringung ist bei ihrer gemeinsamen Abschiebung nach Malta beachtlich wahrscheinlich nicht sichergestellt. Es ist vielmehr beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger und seine Familie bei ihrer Rückkehr nicht in die Prozesse der AWAS einer besonderen Erfassung und Begleitung verletzlicher Personen einbezogen werden (1). Selbst wenn sie eine Unterbringung erhalten, die für verletzliche Personen vorgesehen ist, ist zudem eine Unterbringung (zunächst) in einem offenen Zentrum des staatlichen Unterbringungssystems beachtlich wahrscheinlich; dort aber herrschen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit solche klimatischen Bedingungen Sommers wie Winters, die für Kleinstkinder eine unmenschliche und erniedrigende bzw. entwürdigende Behandlung mit greifbaren existenziellen Gesundheitsgefahren aufgrund der Einwirkung extremer Hitze oder Kälte darstellen (2).

(1) Zum einen folgt aus den Erkenntnissen über den Zugang zu den Prozessen, die für verletzliche Personen vorgesehen sind, dass anerkannte international Schutzberechtigte, die nach Malta zurückkehren, im Gegensatz zu Asylantragstellern nicht in ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit erkannt und infolgedessen bereits deswegen nicht in ihren Bedürfnissen entsprechenden Einrichtungen untergebracht werden können. [...]

(2) Zum anderen ist selbst in dem Fall, dass die besondere Schutzbedürftigkeit im Einzelfall auch von anerkannten international Schutzberechtigten bei ihrer Rückkehr identifiziert wird, beachtlich wahrscheinlich keine angemessene Unterbringung sichergestellt. Denn Familien auch mit minderjährigen Kindern werden beachtlich wahrscheinlich so in offenen Zentren untergebracht, dass die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten nicht hinreichend vor Gesundheitsgefahren wegen Hitze oder Kälte insbesondere bei Kleinstkindern schützen. [...]

Diese Ausführungen macht sich die Kammer zu Eigen, zumal sich an der dargestellten Situation für zurückkehrende international Schutzberechtigte ausweislich der aktuellen Erkenntnisse nichts gravierend verbessert hat.

So hat sich beispielsweise an der Problematik des Zuschnitts des maltesischen Systems in erster Linie auf illegal Einreisende, das nach Malta Zurückgeführte vulnerable Personen nicht erfasst, so dass eine angemessene Unterstützung und Behandlung nicht erfolgen kann, ebenso wenig geändert wie an den Bedingungen in den offenen und geschlossenen Zentren (European Council of Refugees and Exiles, AIDA - Country Report Malta - Update 2019, 31.12.2019, S. 41, 68 ff.). Beim Zugang zum Arbeitsmarkt stehen als schutzberechtigt Anerkannte in Konkurrenz zu den einheimischen Arbeitssuchenden, wobei Schwierigkeiten bei der Anerkennung ausländischer Qualifikationen bestehen (European Council of Refugees and Exiles, AIDA - Country Report Malta - Update 2019, 31.12.2019, S. 84 f.).

Die Kammer bekräftigt in diesem Zusammenhang ihre ständige Rechtsprechung, dass für die Prognose, ob im Falle einer Rückführung in den Drittstaat eine gegen § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK verstoßende Situation extremer materieller Not zu befürchten ist, maßgeblich auf die staatlich verantworteten Lebensverhältnisse abzustellen ist (Urteile der Kammer vom 17.05.2019 - 3 K 2121/18 - (Bulgarien) und vom 05.06.2018 - 3 K 1335/17 (Dänemark), vom 26.01.2018 - 3 K 1536/17 - (Rumänien) unter Hinweis auf OVG des Saarlandes, Urteil vom 25.10.2016 - 2 A 96/16 - (Bulgarien)). Ein Verweis auf die Unterstützung durch kirchliche oder sonstige nichtstaatliche Hilfsorganisationen vermag daher die Bewertung nicht in Frage zu stellen. [...]

Die Kläger als besonders schutzbedürftige Personen würden nach alledem - ohne besondere Zusicherung der zuständigen maltesischen Stellen - mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in die Gefahr einer existenzielle Notlage geraten, die sie nicht aus eigener Kraft abwenden könnten (vgl. dazu EGMR, Große Kammer, Urteil vom 04. November 2014 - Nr. 29217/12 -, Tarakhel/Schweiz, NVwZ 2015, 127, 131, Rn. 118 f. sowie diese Rspr. ausdrücklich bestätigend EuGH, Urteile vom 19.03.2019 - C-297/17 u.a. - (Ibrahim) und - C-163/17 - (Jawo), juris).

Eine notwendige konkret-individuelle Zusicherung der maltesischen Behörden bezüglich der Kläger ist im Zeitpunkt der Entscheidung nicht ersichtlich. [...]