VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 17.09.2020 - 23 K 248/20 A - asyl.net: M28905
https://www.asyl.net/rsdb/M28905
Leitsatz:

Keine Dublin-Überstellung nach Griechenland wegen menschenrechtswidriger Behandlung:

1. Anerkannten Schutzberechtigten droht in Griechenland nach Abschluss ihres Asylverfahrens eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von § 60 Abs. 5 iVm Art. 3 EMRK.

2. Die Situation hat sich durch eine Gesetzesänderung im März 2020 weiter verschlechtert. Hiernach sind Geflüchtete dazu verpflichtet, die Aufnahmeeinrichtung für Asylsuchende 30 Tage nach Zustellung der Entscheidung über die Zuerkennung internationalen Schutzes zu verlassen. Über Asylanträge soll zudem innerhalb von zwei bis drei Monaten entschieden werden.

3. Insbesondere aufgrund der verkürzten Verfahrensdauer kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass Personen, die im Rahmen eines Dublin-Verfahrens nach Griechenland überstellt werden, noch während des sich anschließenden Asylverfahrens Zugang zum Arbeitsmarkt finden. In der Folge droht ihnen durch die zeitnahe Zuerkennung internationalen Schutzes der Verlust der Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung, noch bevor die Existenzsicherung aus eigenen Mitteln gewährleistet werden kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Griechenland, Dublinverfahren, systemische Mängel, internationaler Schutz in EU-Staat, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, alleinstehende Männer, Obdachlosigkeit,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013/EU Art. 3 Abs. 2, EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Jedenfalls soweit die Lebensbedingungen anerkannter Schutzberechtigter nach Abschluss des Asylverfahrens in den Blick genommen werden, droht nach der aktuellen Gesamtwürdigung der zu Griechenland vorliegenden Berichte und Stellungnahmen vor allem von Nichtregierungsorganisationen, denen ein besonderes Gewicht zukommt, dem Kläger individuell für den Fall der Rückführung nach Griechenland eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK i.V.m. § 60 Abs. 5 AufenthG (zur Prüfpflicht des Gerichts siehe BVerfG, Beschluss vom 8. Mai 2017 - 2 BvR 157/17 -, juris Rn. 16 f.; vgl. zu Griechenland VG Berlin, Beschluss vom 7. Februar 2020 - VG 22 L 25/20 A -, Abdruck, S. 2 ff.; a.A. VG Berlin, Urteil vom 10. Dezember 2019 - VG 3 K 370.19 A -, Abdruck, S. 5 ff.). [...]

Darüber hinaus ergibt sich aus den neuesten Erkenntnissen eine weitere Verschlechterung der Situation von Geflüchteten kurz nach ihrer Anerkennung als international Schutzberechtigte: Diese haben aufgrund einer Gesetzesänderung im März 2020 die Aufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber nunmehr bereits 30 Tage ab der Zustellung der Entscheidung über die Zuerkennung internationalen Schutzes zu verlassen; die Entscheidung über den Asylantrag soll zudem nicht länger als zwei bis drei Monate dauern. Aufgrund der Corona-Pandemie wurden anerkannte Schutzberechtigten zudem durch eine Ministeriumsentscheidung vom 7. April 2020 verpflichtet, die Aufnahmeeinrichtungen bis zum 31. Mai 2020 zu verlassen (vgl. AIDA, Country Report: Greece, Update: Juni 2020, S. 217, abrufbar unter: www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_gr_2019update.pdf, zuletzt abgerufen: 31. August 2020). Jedenfalls vor diesem Hintergrund kann entgegen der vom Verwaltungsgericht Berlin in der Vergangenheit teilweise vertretenen Auffassung nicht (mehr) davon ausgegangen werden, dass Personen, die unter dem Dublin-Regime nach Griechenland überstellt werden, bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens in der Lage sind, die bestehenden bürokratischen und praktischen Hürden zu überwinden, um Zugang zum Arbeitsmarkt in Griechenland zu haben. Denn diese Rechtsprechung stellte maßgeblich auf die lange Dauer bis zur Entscheidung über den Asylantrag ab und den Verbleib in einer Aufnahmeeinrichtung währenddessen, die es den Betroffenen ermöglichte, bestehende Hürden zu überwinden (vgl. VG Berlin, Urteil vom 10. Dezember 2019 - VG 3 K 370.19 A -, Abdruck, S. 20 f.). Diese Dauer wurde durch die o.g. Änderungen erheblich verkürzt. [...]