VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Beschluss vom 01.10.2020 - 5 L 814/20 - asyl.net: M28925
https://www.asyl.net/rsdb/M28925
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz in Dublin-Verfahren nach Widerruf coronabedingter Aussetzung der Vollziehung:

"[...] 3. Im Falle des Widerrufs der Vollziehungsaussetzung einer Abschiebungsanordnung im Dublin III-Verfahren ist vom Bundesamt entsprechend § 58 VwGO über die Fristgebundenheit eines vorläufigen Rechtsschutzantrags zu belehren; unterbleibt dies, bleibt der Antrag binnen Jahresfrist zulässig.

4. Die sechsmonatige Überstellungsfrist wird durch einen fristgerecht gestellten Antrag nach § 80 Abs 5 VwGO dann nicht unterbrochen, wenn nach der Vollziehungsaussetzung einer Abschiebungsanordnung nach beiderseitigen Hauptsacheerledigungserklärungen das Antragsverfahren eingestellt wird; sie läuft auch nach dem Einstellungsbeschluss nicht neu an.

5. Eine Entscheidung der zuständigen Behörde nach § 80 Abs 4 VwGO ist grundsätzlich geeignet, die Überstellungsfrist zu unterbrechen.

6. Die Kammer schließt sich der ganz überwiegenden Meinung in der verwaltungsgerichtlichen Judikatur an, wonach die [coronabedingte] Aussetzung der Vollziehung von Abschiebungsanordnungen durch das Bundesamt jedenfalls den Lauf der Überstellungsfrist nicht unterbricht (Anschluss [OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 09.07.2020 - 1 LA 120/20 - asyl.net: M28812])."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Abschiebungsanordnung, Aussetzung der Vollziehung, Corona-Virus, Dublinverfahren, Überstellungsfrist, Unterbrechung der Frist, Widerruf, Belehrung, Rechtsmittelbelehrung, Einstellungsbeschluss, Zuständigkeitsübergang, vorläufiger Rechtsschutz,
Normen: VO 604/2013/EU Art. 29 Abs. 2 S. 1, VO 604/2013/EU Art.27 Abs. 4, VwGO § 80 Abs. 5, VwGO § 58,
Auszüge:

[...]

1. Das Eilrechtsschutzbegehren der Antragsteller ist im Ergebnis statthaft und auch im Übrigen zulässig.

Der Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO auf Abänderung des (Einstellungs-)Beschlusses vom 29.06.2020 (im in der Hauptsache erledigten Verfahren 5 L 574/20) bedarf allerdings in der vorliegenden Konstellation (zur (dort zutreffend angenommenen) Zulässigkeit eines Antrages nach § 80 Abs. 7 VwGO im Falle der vorangegangenen gerichtlichen Zurückweisung eines Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO vgl. hingegen etwa VG Köln, Beschluss vom 26.08.2020 - 14 L 1419/20.A -, juris, Rz. 2) der Umdeutung (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO). [...] Der vorliegende Eilrechtsschutzantrag ist vielmehr bei sachgerechtem Verständnis des antragstellerischen Rechtsschutzziels als (weiterer) Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung der Antragsgegnerin vom 20.05.2020 anzusehen, der als solcher – jedenfalls nach dem von ihr erklärten Widerruf der behördlichen Aussetzung ihrer Vollziehung – (zur (umstrittenen) Frage, ob nach behördlicher Vollzugsaussetzung weiterhin ein (Eil-) Rechtsschutzbedürfnis für eine gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung bestehen kann vgl. einerseits VG Karlsruhe, Beschluss vom 30.07.2020 - A 9 K 779/20 -, juris, Rz. 7 ff., m.w.N., und andererseits VG Gießen, Beschluss vom 08.04.2020 - 6 L 1015/20.GI.A -, juris, Rz. 4 ff., m.w.N.) ohne weiteres statthaft erscheint. Denn nach dem Widerruf der Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO durch die Antragsgegnerin war der in der Hauptsache angefochtene Verwaltungsakt wieder vollziehbar und damit tauglicher Gegenstand eines Antrags nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO; der Anfechtungsklage (5 K 573/20) gegen die Abschiebungsanordnung kommt gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung zu. [...]

Der so verstandene Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist vorliegend auch nicht verfristet. [...]

Nichts anderes gilt hier, wenn man – allerdings entgegen dem klaren Wortlaut des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG, wonach Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Abschiebungsanordnung "innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe" zu stellen sind – davon ausgehen wollte, dass die einwöchige Antragsfrist in Fällen der behördlichen Vollziehungsaussetzung nicht bereits mit Bekanntgabe der Abschiebungsanordnung zu laufen beginnt, sondern in entsprechender Anwendung des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG erst mit der Entscheidung des Bundesamts über die Aufhebung der Aussetzung der Vollziehung (so VG Freiburg, Beschluss vom 26.06.2020 - A 10 K 1685/20 -, juris, Rz. 5; ebenso VG Gießen, Beschluss vom 08.04.2020 - 6 L 1015/20.GI.-A -, juris, Rz. 6, m.w.N.; a.A. VG Ansbach, Beschluss vom 25.05.2020 - AN 17 S 20.50147 -, juris, Rz. 24). Auf den entsprechenden Widerruf der Antragsgegnerin vom 24.07.2020, der der Antragstellerseite am 29.07.2020 ordnungsgemäß zugestellt wurde, haben die Antragsteller den vorliegenden Eilrechtsschutzantrag nämlich erst am 18.08.2020 und damit mehr als eine Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung des Bundesamts über die Aufhebung der Vollziehung gestellt. [...]

Trotz alledem ist der vorliegende Eilrechtsschutzantrag vom 18.08.2020 gegen die Abschiebungsanordnung vom 20.05.2020 nicht verfristet. Denn gemäß § 58 Abs. 1 VwGO beginnt die Frist für ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf nur zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, das Gericht, bei dem der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist. Auch ohne ausdrücklichen gesetzlichen Verweis auf § 58 VwGO muss danach über die einwöchige Antragsfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG belehrt werden (vgl. nur Eyermann/Hoppe, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 58 Rn. 5). Das hat die Antragsgegnerin zwar mit der dem Bescheid vom 20.05.2020 beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung hinsichtlich der Abschiebungsanordnung selbst ordnungsgemäß getan. Keine Rechtsbehelfsbelehrung war indes (der Aussetzung der Vollziehung vom 09.06.2020 sowie) dem Widerruf der Aussetzung der Vollziehung vom 24.07.2020 beigefügt. Insbesondere wurde in dem entsprechenden Schreiben nicht darauf hingewiesen, dass es nach zwischenzeitlichem Ablauf der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG hinsichtlich der Abschiebungsanordnung vom 20.05.2020 zur Herstellung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Klage nunmehr entweder in direkter bzw. analoger Anwendung des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG eines erneuten Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO binnen Wochenfrist oder zumindest der Nachholung des (nach Einstellung des vorherigen Eilrechtsschutzverfahrens) versäumten Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO innerhalb der zweiwöchigen Wiedereinsetzungsfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO bedarf. Darüber wären die Antragsteller allerdings gemäß § 58 Abs. 1 VwGO förmlich zu belehren gewesen (ebenso VG Freiburg, Beschluss vom 26.06.2020 - A 10 K 1685/20 -, juris, Rz. 5; vgl. auch VG Ansbach, Beschluss vom 11.03.2020 - AN 18 S 20.50069 -, juris, Rz. 15). Das gilt unabhängig davon, ob man der Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung und insbesondere dem Widerruf der Vollziehungsaussetzung – dem hier im Übrigen zweifellos Regelungscharakter im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG zukommen dürfte – Verwaltungsaktsqualität beimisst oder nicht (vgl. dazu VG Ansbach, Beschluss vom 25.05.2020 - AN 17 S 20.50147 -, juris, Rz. 25; VG Gießen, Beschluss vom 08.04.2020 - 6 L 1015/20.GI.A -, juris, Rz. 5, m.w.N.; zum Meinungsstand vgl. auch Kopp/Schenke, VwGO, 18. Aufl. 2012, § 80 Rz. 78, m.w.N.). Denn jedenfalls soweit ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO – wie hier durch § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG – spezialgesetzlich befristet ist, ist eine (zumindest analoge) Anwendung des § 58 VwGO nach zutreffender Auffassung auch mit Rücksicht auf Art. 19 Abs. 4 GG geboten (vgl. nur Kopp/Schenke, VwGO, 18. Aufl. 2012, § 58 Rz. 5, m.w.N.). Die Antragsgegnerin hat in ihrem Schreiben vom 24.07.2020 aber noch nicht einmal formlos darauf hingewiesen, dass in Anbetracht der nicht abschließend geklärten Rechtslage und der dargestellten divergierenden Rechtsprechung zur Wahrung der Rechte der Antragsteller eine fristgebundene erneute Antragstellung vonnöten sein könnte.

Vor diesem Hintergrund ist nach Auffassung der Kammer davon auszugehen, dass der nach Widerruf der Vollziehungsaussetzung gestellte Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mangels einer diesbezüglich gebotenen Rechtsbehelfsbelehrung innerhalb der Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO zulässig bleibt. [...]