VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.10.2020 - A 4 S 1933/20 (Asylmagazin 12/2020, S. 431) - asyl.net: M28977
https://www.asyl.net/rsdb/M28977
Leitsatz:

Kein Zuständigkeitsübergang bei unangemessener Dauer des gerichtlichen Eilverfahrens:

"Wird über einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO entgegen Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Satz 3 Dublin III-VO nicht innerhalb angemessener Frist entschieden, führt dies nicht dazu, dass der Mitgliedstaat, der die Überstellungsentscheidung erlassen hat, zuständiger Mitgliedstaat wird."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Verfahrensdauer, Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, Eilverfahren, Zuständigkeitsübergang, Frist, subjektives Recht,
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, VO 604/2013/EU Art. 27 Abs. 3 Bst. c S. 3,
Auszüge:

[...]

2. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache liegt nicht vor. Sie ist dann gegeben, wenn mit ihr eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung nicht geklärte Frage von allgemeiner, d.h. über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung aufgeworfen wird, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war und sich im Berufungsverfahren stellen würde und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf (vgl. VGH Bad. -Württ., Beschluss vom 26.04.2019 - A 12 S 2038/18 -, Juris Rn. 2). Die Klärungsbedürftigkeit einer Rechts- oder Tatsachenfrage ist unter anderem dann zu verneinen, wenn die Frage bereits geklärt ist, wenn sie aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 07.10.2019 - 11 S 1835/19 -, Juris Rn. 11). Dies ist hier der Fall.

Zwar erscheint eine Dauer von ungefähr zwei Jahren für ein Eilverfahren schwerlich als „angemessene Frist“ im Sinne von Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Satz 3 Dublin III-VO. Nach Auffassung des Senats kommt es darauf jedoch nicht an, weil sich die daran anknüpfende Frage zur Relevanz einer Fristüberschreitung - aus der allein sich ein (weitergehender) Erfolg der Klage ergeben könnte - auch ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantworten lässt. Der Kläger weist im Ausgangspunkt zu Recht auf das Urteil des EuGH vom 26.07.2017 - C-670/16 - hin, wonach Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO dahin auszulegen ist, dass sich eine Person, die internationalen Schutz beantragt, im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine ihr gegenüber ergangene Überstellungsentscheidung auf den Ablauf einer in Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO genannten Frist berufen kann (vgl. in diesem Sinne schon EuGH, Urteil vom 07.06.2016 - C-63/15 - [Ghezelbash] und Urteil vom 25.10.2017 - C-201/16 - [Shiri]). Der EuGH hebt in Bezug auf die mit der Verordnung verfolgten Ziele insbesondere hervor, dass mit ihr angesichts der bisherigen Erfahrungen die notwendigen Verbesserungen nicht nur hinsichtlich der Leistungsfähigkeit des Dublin-Systems vorgenommen werden sollen, sondern auch hinsichtlich des Schutzes der Antragsteller, der insbesondere durch einen ihnen gewährten effektiven und vollständigen gerichtlichen Rechtsschutz sichergestellt wird, und dass eine restriktive Auslegung des Umfangs des in Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO vorgesehenen Rechtsbehelfs der Erreichung dieses Ziels entgegenstehen könnte (EuGH, Urteil vom 26.07.2017 - C-670/16 - [Mengesteab], Juris Rn. 46 f.). Der EuGH weist insoweit allerdings ausdrücklich auch darauf hin, „dass der Unionsgesetzgeber die Auswirkungen des Ablaufs dieser Fristen … geregelt hat“ (Juris Rn. 52). Dem Aspekt, welche Wirkungen der Unionsgesetzgeber im Falle eines Fristablaufs vorgesehen hat, misst der EuGH auch in anderem Zusammenhang entscheidende Bedeutung bei (vgl. EuGH, Urteil vom 25.01.2018 - C-360/16 - [Hasan], Juris Rn. 87 ff. zu Art. 24 Abs. 2 und 3 Dublin III-VO sowie EuGH, Urteil vom 13.11.2018 - C-47/17 und C-48/17 - [X und X], Juris Rn. 60 f., 78 zu Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003).

Dies ist der entscheidende Unterschied zu Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Satz 3 Dublin III-VO. Nicht nur ist - im Unterschied zu Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO - eine konkrete Fristdauer nicht bestimmt. Vor allem und entscheidend hat der Verordnungsgeber für die Nichteinhaltung der Frist des Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Satz 3 Dublin III-VO keinen Übergang der Zuständigkeit angeordnet . Die Dublin III-VO dient der Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats (vgl. Art. 1 Dublin III-VO) anhand eines komplexen, wenn auch nicht lückenlosen Systems zahlreicher Kriterien. Eine Regelungslücke ergibt sich für den Senat aus den Darlegungen des Klägers nicht. Dieser möchte vielmehr einen Zuständigkeitsübergang annehmen, ohne dass eine dies stützende Norm existiert. Dies kommt bei einem ausdifferenzierten Regelwerk wie der Dublin III-VO jedoch nicht in Betracht. Zur Gewährleistung zeitnahen Rechtsschutzes ist der Kläger vielmehr auf die prozessualen Möglichkeiten wie etwa die Verzögerungsrüge (§ 173 Satz 2 VwGO i.V.m. § 198 Abs. 3 GVG) zu verweisen. [...]