VG Frankfurt/Oder

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Zitieren als:
VG Frankfurt/Oder, Urteil vom 27.11.2020 - 10 K 1085/17.A - asyl.net: M29112
https://www.asyl.net/rsdb/M29112
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Familie mit Staatsangehörigkeiten von Tschad und Burkina Faso:

"1. Minderjährige weibliche Angehörige des Stamms der Hadjaraj-Bidio unterliegen der Gefahr einer Beschneidung.

2. Geschwisterfamilienschutz nach § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG setzt nicht voraus, dass die minderjährigen Geschwister des minderjährigen Stammberechtigten im Herkunftsstaat geboren sind."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Tschad, Burkina Faso, Genitalverstümmelung, FGM, Familienschutz, Geschwister, Bruder, Schwester, Eltern, geschlechtsspezifische Verfolgung,
Normen: AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 6, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 26 Abs. 3 S. 1, AsylG § 26 Abs. 3 S. 2,
Auszüge:

[...]

24 3. [...] Der angegriffene Bundesamtsbescheid erweist sich daher in Ansehung aller im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erkennbaren Umstände (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) im noch angegriffenen Umfang im Ergebnis hinsichtlich aller Kläger als rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, da die Klägerin zu 3. aus eigenem Recht, die übrigen Kläger aus abgeleitetem Recht die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus (§ 3 Abs. 1 AsylG) beanspruchen können, weshalb die entgegenstehenden Regelungen des angegriffenen Bescheides aufzuheben sind (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

35 3.2 Allerdings hat die Klägerin zu 3., eine heute 13-jährige tschadische Staatsangehörige, in Ansehung der besonders gelagerten Einzelfallumstände, die ihre persönliche Situation für den Fall der Rückkehr in den Tschad kennzeichnen, einen Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus wegen der ihr zur Überzeugung des Gerichts im Tschad drohenden Beschneidungsgefahr.

36,37 Die an Mädchen vorgenommene Beschneidung stellt grundsätzlich eine flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlung i.S.v. § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 AsylG dar. Derartige Maßnahmen knüpfen nämlich an einen Verfolgungsgrund i.S.v. § 3b AsylG an. Sie erfolgen wegen der Zugehörigkeit der betroffenen Frau oder des betroffenen Mädchens zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 a.E. AsylG. Nach dieser Vorschrift gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, wenn die Verfolgung allein an das Geschlecht oder an die geschlechtliche Identität anknüpft. Dies ist bei der weiblichen Genitalverstümmelung der Fall.

38 Das Gericht geht davon aus, dass im Tschad deutlich weniger als die Hälfte der Mädchen der Altersgruppe der Klägerin beschnitten werden (vgl. UNICEF, statistical profile on female genital mutilation, Januar 2019: 32 %). Dabei unterliegt die Beschneidung einem staatlichen Verbot und theoretisch der Bestrafung (US-Außenministerium vom 11. März 2020), was allerdings in der Praxis staatlich nicht sanktioniert wird (eda.).

39 Angesichts der fehlenden Effektivität staatlicher Regelungen im hier interessierenden Bereich müssen angesichts der traditionell stark stammesgeprägten Traditionen und sozialen Gewohnheiten im Vielvölkerstaat Tschad in die Prognoseentscheidung, wie hoch die Beschneidungsgefahr für ein Mädchen im Einzelfall ist, die konkreten Lebensumstände, namentlich die Verhältnisse des maßgeblichen Stammes miteinbezogen werden, dem die Frau bzw. das Mädchen angehört. Im vorliegenden Fall ist es zwar von Bedeutung, dass die Mutter der Klägerin es ablehnt, ihre Tochter beschneiden zu lassen, und auch der Vater diese Ansicht im Asylverfahren vertritt. Mit Blick auf die ethnischen, kulturellen und der Tradition verhafteten Hintergründe bei der Klägerin zu 3. als Stammeszugehörige der Hadjaraj-Bidio erscheint es dem Gericht jedoch nicht hinreichend sicher, dass ihre Mutter tatsächlich Schutz vor einer Beschneidung bieten kann. Vielmehr spricht Überwiegendes für die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass Mitglieder der Großfamilie der Mutter der Klägerin oder sonstige Personen des sozialen Umfelds eine Beschneidung der Klägerin zu 3. durchsetzen werden.

40 Nach Auswertung der Auskunftslage (insbesondere US-Außenministerium vom 11. März 2020; UNICEF a.a.O.; 28TooMany, FGM … let´s end it, November 2019; wikipedia, Hadjarai peoples) zählt der Stamm der Klägerin zu 2. zu den arabischstämmigen Völkern muslimischen Glaubens im Tschad mit einem Anteil von etwa 6,7 % an der Bevölkerung; 90 % der Frauen dieser Völker sollen beschnitten sein, womit sie zu den am häufigsten von weiblicher Genitalverstümmelung (FGM) betroffenen Stämmen zählen (vgl. BFA vom 23. Mai 2016, S. 15); der hierzu gehörende Stamm der Bidio - dem gehören die Klägerinnen nach der Vaterlinie der Klägerin zu 2. an - stellt etwa 2,5 % der Bevölkerung. Soweit die Klägerin zu 2. in der mündlichen Verhandlung behauptet hat, ihre Mutter gehöre einem Stamm "Salamat" an, ist dies zwar nicht nachvollziehbar, da es einen solchen Stammesnamen nicht gibt; freilich herrscht in der tschadischen Region Salamat eine etwa 96 %-ige FGM-Quote vor (28TooMany a.a.O.) und damit die höchste je tschadischer Provinz erhobene Prävalenz. Auch die Klägerin zu 2. ist beschnitten; nach ihren - unbelegten - Angaben sind alle Frauen ihrer Familie beschnitten. Dabei muss berücksichtigt werden, dass es der Tradition entspricht, dass die Stämme weitgehend homogen bleiben. Insofern hat der Kläger zu 1. während seiner informatorischen Befragung plausibel angeführt, dass man auf die Unterstützung seiner Verwandtschaft angewiesen sei. Das Gericht hält ihn an dieser Stelle für glaubhaft, zumal es der Beobachtung aus einer Vielzahl von Asylverfahren entspricht, dass sich aus stammesgeprägten Gesellschaften gebürtige Menschen regelmäßig nur auf Hilfeleistungen aus ihrem Stamm stützen können. Daher wird die Klägerin zu 3. in ihrem für die FGM relevanten Alter in eine hochgradig von FGM betroffene Stammesgesellschaft zurückkehren, die sich - zumal als Minderheitenstamm - sehr deutlich von den übrigen Stammesgesellschaften im Tschad unterscheidet, in denen eine bis zu nahezu nicht vorhandene FGM-Fälle niedrigere Prävalenz feststellbar ist. Insofern nimmt es das Gericht den Klägern ab, dass sie sich angesichts der stark von den Frauen ihres Stammes beherrschten geschlechtsspezifischen Verhältnisse im Zusammenhang mit der FGM den äußeren Verhältnissen nicht werden entziehen können. Es erscheint plausibel, dass die Klägerin zu 3. im Zusammenhang mit einer etwaigen Heiratsabsicht von den Frauen des Stammes auch gegen den Willen der Kläger zu 1. und 2. einer Beschneidung zugeführt werden kann, so dass sie unabhängig von einer etwaigen gesellschaftlichen Stigmatisierung wegen der fehlenden Beschneidung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit tatsächlich körperliche Übergriffe riskiert. Hieran wird der Umstand nichts ändern, dass die Kläger mit N´Djamena aus einer städtischen Umgebung kommen, in die sie wieder zu ihren Verwandten zurückkehren können. Denn die im Vergleich zu den nördlichen und südlichen Regionen des Tschad vergleichsweise hohe FGM-Rate in der Hauptstadt (37,6 % laut 28TooMany a.a.O.) dürfte auf dem Umstand beruhen, dass hier auch viele Angehörige der von hohen Beschneidungsraten betroffenen Stämme ihr Auskommen suchen, was es wiederum jedenfalls nicht ausschließt, dass sich diese Menschen trotz einer gewissen Relativierung ihrer Stammestraditionen im hauptstädtischen Umfeld in Bezug auf die Praxis der FGM der eigenen Stammestradition verpflichtet fühlen.

41 3.3. Im Anschluss an die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus für die Klägerin zu 3. können ihre Eltern gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 AsylG sowie ihre Brüder gemäß § 26 Abs. 3 Satz 2, Abs. 5 Satz 1 AsylG einen abgeleiteten Flüchtlingsstatus beanspruchen. Das Gericht hält dafür, über diese Ansprüche vorliegend mitzuentscheiden, obgleich sie gemäß § 26 Abs. 3 Nr. 1 AsylG die Unanfechtbarkeit der Anerkennungsentscheidung für die Klägerin zu 3. voraussetzen, weil das Gericht diese Verfahrensweise aus Gründen der Prozessökonomie ausnahmsweise für zulässig erachtet, da im Falle der Rechtskraft dieses Urteil die Voraussetzungen nach § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AsylG vorliegen und ein gebundener Rechtsanspruch der Eltern und Brüder der Klägerin zu 3. auf Zuerkennung des Familienflüchtlingsstatus besteht.

42 Die Eltern der Klägerin zu 3. haben mit ihr gemeinsam bereits im Tschad als Familie zusammengelebt, so dass die Voraussetzungen des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG unproblematisch erfüllt sind.

43 Hinsichtlich der Kläger zu 4. und 5. gilt gemäß § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG insofern nichts anderes hinsichtlich des Erfordernisses der bereits im Herkunftsstaat bestehenden Familie i.S.v. Art. 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU. Denn sie sind zwar erst nach der Ausreise der Kläger zu 1. bis 3. aus dem Tschad in Italien bzw. in Frankreich geboren worden; sie sind allerdings in eine bereits im Tschad bestehende Familie - der Kläger zu 1. bis 3. - hineingeboren worden. Hiermit liegen die nach dem Sinn und Zweck des die minderjährigen ledigen Geschwister minderjähriger Stammberechtigter begünstigenden Familienschutzregelung des § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG erforderlichen Voraussetzungen vor, nämlich eine besondere Nähe zur Gefährdungssituation sowie ein schutzwürdiger Familienverband (vgl. VG Freiburg i.B., Urteil vom 27. August 2020 - A 10 K 8179/17 - juris Rn. 34). Bereits nach der seit 2007 geltenden Rechtslage war es für den Fall des Familienasyls minderjähriger Kinder - abgeleitet von ihren Eltern als Stammberechtigten - nicht erforderlich, dass die zum Familienasyl berechtigten Kinder zusammen mit den Stammberechtigten eingereist sind, also vor der Einreise geboren waren (VG Freiburg i.B., Urteil vom 9. Oktober 2018 - A 1 K 3294/17 - juris Rn.17 m.w.N.). Daher setzt die in § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG angeordnete "entsprechend(e)" Geltung von § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG insoweit (nur) voraus, dass es einen bereits im Herkunftsstaat bestehenden Familienverband geben muss, dem der minderjährige Stammberechtigte angehört (vgl. ebenso: VG Sigmaringen, Urteil vom 19. Mai 2017 - A 3 K 3301/16 - juris Rn. 24 m.w.N.). [...]