VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 07.12.2020 - 3 K 2164/18.A - asyl.net: M29137
https://www.asyl.net/rsdb/M29137
Leitsatz:

Asyl- und Flüchtlingsanerkennung für alevitischen Kurden aus Tunceli wegen Unterstützung der PKK:

Personen, die als tatsächliche oder potentielle Unterstützer der PKK in das Visier der türkischen Sicherheitskräfte gelangt sind, ist die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, da die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze bei der Strafverfolgung (vermeintlicher) Unterstützer*innen der PKK in der Türkei nicht gewährleistet ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, politische Verfolgung, unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, Politmalus, Tunceli,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, GG Art. 16a,
Auszüge:

[...]

Hiervon ausgehend ist der Kläger als Asylberechtigter anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Aus dem Gesamtbild, welches das Gericht aus den Verwaltungsvorgängen des Bundesamtes, dem persönlichen Eindruck des Klägers in der mündlichen Verhandlung sowie der Würdigung der eingereichten Dokumente, insbesondere der Mitteilung des Herrn vom 23. Oktober 2020, gewonnen hat, ist das Gericht zu der nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderlichen Überzeugung gelangt, dass dem Kläger bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine individuelle staatliche Verfolgung wegen einer Zurechnung zur PKK droht. [...]

Eine solche asylrechtlich relevante Rückkehrgefährdung wird insbesondere bei Personen, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sind, weil sie dort als tatsächliche oder lediglich potentielle Unterstützer der PKK oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden, angenommen. Es kann trotz gesetzgeberischer Maßnahmen und einiger Verbesserungen ("Null-Toleranz-Politik" gegen Folter und Misshandlungen gem. Art. 94 ff. des tStGB) noch nicht mit der gebotenen Verlässlichkeit davon ausgegangen werden, dass gegen (vermeintliche) Unterstützer der PKK nur mit rechtsstaatlichen Mitteln vorgegangen wird. Auch dem Auswärtigen Amt zufolge wird immer noch über Misshandlungen im Rahmen der Anti-Terroreinsätze gegen die PKK im Südosten des Landes berichtet. [...]

Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in die Türkei eine Strafverfolgung wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in und Unterstützung der PKK und damit ein Politmalus.

Dabei kann die Frage einer Sippenhaft des Klägers wegen der Funktion seines Onkels ... als Bürgermeister von ... dessen ÖDP-Mitgliedschaft dahinstehen, weil dem Kläger durch seine eigene, aktive Unterstützung und Versorgung der PKK-Kämpfer in Dersim von 2013 bis kurz vor seiner Ausreise eine Verfolgung droht.

Der Kläger hat glaubhaft dargelegt, dass er 2013 das PKK-Mitglied ... kennengelernt und seitdem die PKK-Kämpfer mit Lebensmitteln versorgt und deren Zeitung Serbuxyi verteilt hat. [...]

Dass der Kläger auf dem Luftweg ausreiste, steht der Annahme einer beachtlich wahrscheinlichen Verfolgung nicht entgegen. Denn der Kläger schilderte glaubhaft die eingekaufte Hilfe durch Schlepper, ohne die er eine Ausreise nicht glaubte bewerkstelligen zu können.

Dem Kläger steht keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Denn im Falle derart politischer Unterstützung der kurdischen Belange ist von einem nicht nur regionalen, sondern landesweiten staatlichen Ergreifungsinteresse auszugehen. [...]