VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 22.12.2020 - 1 A 280/19 - asyl.net: M29165
https://www.asyl.net/rsdb/M29165
Leitsatz:

Altersentsprechender Maßstab für Integrationsprognose bei erstmaligem Aufenthalt für gut integrierte Jugendliche:

"Dem prognostischen Charakter von § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG entspricht es, dass bei der erstmaligen Erteilung der Aufenthaltserlaubnis im Jugendlichen- oder Heranwachsendenalter eine größere Unsicherheit über den Erfolg der Integration in Kauf genommen werden kann (Anschluss an Nds. OVG, Beschl. v. 17.08.2020 – 8 ME 60/20 -, juris Rn. 42)."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Integration, Integrationsprognose, Bleiberecht, Schule, Lebensverhältnisse, Prognose,
Normen: AufenthG § 25a Abs. 1 S. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

15 Die zulässige Klage ist begründet; der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG. Der entgegenstehende Bescheid des Beklagten vom 21.10.2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1, 5 Satz 1 VwGO.

16 Nach § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG setzt der Sollensanspruch eines jugendlichen oder heranwachsenden Ausländers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis u.a. voraus, dass es gewährleistet erscheint, dass er sich auf Grund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. Die danach erforderliche Erwartung, dass der Ausländer sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann, erfordert eine positive Integrationsprognose. Diese kann gestellt werden, wenn die begründete Erwartung besteht, dass der ausländische Jugendliche oder Heranwachsende sich in sozialer, wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. Geboten ist eine die konkreten individuellen Lebensumstände des ausländischen Jugendlichen oder Heranwachsenden berücksichtigende Gesamtbetrachtung, etwa der Kenntnisse der deutschen Sprache, des Vorhandenseins eines festen Wohnsitzes und enger persönlicher Beziehungen zu dritten Personen außerhalb der eigenen Familie, des Schulbesuchs und des Bemühens um eine Berufsausbildung und Erwerbstätigkeiten, des sozialen und bürgerschaftlichen Engagements sowie der Akzeptanz der hiesigen Rechts- und Gesellschaftsordnung (vgl. Röcker in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 25a Rn. 15; Nds. OVG, Urt. v. 19.3.2012 - 8 LB 5/11 -, juris Rn. 74; Urt. v. 08.02.2018 - 13 LB 43/17 -, juris Rn. 65). Dabei entspricht es nach der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts, dem die Einzelrichterin folgt, dem prognostischen Charakter, dass bei der erstmaligen Erteilung der Aufenthaltserlaubnis im Jugendlichen- oder Heranwachsendenalter eine größere Unsicherheit über den Erfolg der Integration in Kauf genommen werden kann (Nds. OVG, Beschl. v. 17.08.2020 - 8 ME 60/20 -, Rn. 42).

17 Nach dieser Maßgabe erscheint ist gewährleistet, dass sich der Kläger in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. Die Einzelrichterin bewertet die schulische Laufbahn positiv. Der Kläger ist erst als 13-jähriger nach Deutschland gekommen und hat sogleich die Schule besucht, was nach Einschätzung der Einzelrichterin mit allerhand Startschwierigkeiten in sprachlicher Hinsicht, aber auch mit Blick auf die Anpassungsschwierigkeiten eines pubertierenden Jungen verbunden war. Er hat die Schule mit dem Hauptschulabschluss erfolgreich abgeschlossen und nach einem Umweg über die BBS II in A-Stadt auch den Realschulabschluss erreicht. Damit konnte er seine beruflichen Perspektiven nochmals verbessern. Nunmehr besucht er die BBS II erneut in einem Ausbildungslehrgang. Sicherlich hatte er zunächst einen Leistungseinbruch an der Schule und auch erhebliche Fehlzeiten angehäuft. An Ende steht aber ein Schulabschluss. Gegenüber dem Zeugnis der 10. Klasse, die er nur mit dem Hauptschulabschluss beendete, konnte er auch seine Leistungen beim erfolgreichen Versuch, im zweiten Anlauf den Realschulabschluss zu erlangen, deutlich verbessern. Ausweislich des im gerichtlichen Verfahren eingereichten Zeugnisses über den Realschulabschluss vom 10.03.2020 erreichte er in den Fächern Deutsch und Mathematik die Note ausreichend, ebenso in den Fächern Politik, Biologie und Physik, in den Fächern Geschichte indes die Note befriedigend und in seiner Muttersprache Serbisch sogar die Note sehr gut. Die Note mangelhaft findet sich nicht mehr im Zeugnis. Eine spätere wirtschaftliche Integration ist nach alledem zu erwarten. Die deutsche Sprache beherrscht der Kläger ausweislich des Realschulzeugnisses. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger die hiesige Rechts- und Gesellschaftsordnung nicht akzeptiert und er sich nicht in rechtlicher Hinsicht wird integrieren können, liegen allenfalls in den nicht entschuldigten Fehlzeiten. Sie wiegen allerdings nicht schwer, zumal der Kläger, wie ausgeführt, seine schulischen Leistungen verbessert hat und offenbar wieder zu Einsatzbereitschaft und Zuverlässigkeit zurückgefunden hat. Straffällig geworden ist der Kläger demgegenüber bislang nicht.

18 Da die Erteilungsvoraussetzungen auch im Übrigen vorliegen und die Inanspruchnahme von öffentlichen Leistungen durch den Kläger hier nach § 25a Abs. 1 Satz 2 AufenthG der Titelerteilung nicht entgegensteht, ist ihm die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Besondere Umstände, die eine andere Entscheidung ausnahmsweise rechtfertigten, sind nicht ersichtlich. [...]