OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 16.06.2020 - 6 Bs 75/20 - asyl.net: M29180
https://www.asyl.net/rsdb/M29180
Leitsatz:

Zu den Voraussetzungen des Vorliegens einer familiären Lebensgemeinschaft:

"1. Bei der Berücksichtigung von Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK als ein Ausreise- oder Abschiebungshindernis insbesondere im Rahmen von § 25 Abs. 5 AufenthG oder § 60a Abs. 2 AufenthG kommt es maßgeblich darauf an, ob eine familiäre Lebensgemeinschaft in zumutbarer Weise ausschließlich im Bundesgebiet aufrecht­erhalten werden kann.

2. Zwar ist es für die Herleitung eines Abschiebungsverbots aus Art. 6 GG regelmäßig erforderlich, dass das im Inland lebende Familienmitglied, zu dem eine Bindung geltend gemacht wird, über ein Aufenthaltsrecht verfügt und dieses nicht selbst etwa nur geduldet ist. Es kann aber ausnahmsweise Konstellationen geben, in denen weder die freiwillige Ausreise noch die Abschiebung des im Inland lebenden Familienmitgliedes, der über kein Aufenthaltsrecht verfügt, möglich ist, mit der Folge, dass die familiäre Lebensgemeinschaft mit einem weiteren Familienangehörigen in zumutbarer Weise nur im Bundesgebiet aufrechterhalten werden kann. Dann kann eine Abschiebung eines weiteren Familienangehörigen auch ohne berechtigten Aufenthalt des im Inland lebenden Familienmitglieds, zu dem eine Bindung geltend gemacht wird, rechtlich unmöglich sein (Anschluss an: OVG Lüneburg, Beschl. v. 9.12.2019, 8 ME 92/19, AuAS 2020, 30, juris Rn. 8).

3. Art. 6 GG und Art. 8 EMRK begründen unter anderem grundsätzlich eine Pflicht des Staates, Verfahren zur Wahrung des Umgangsrechts eines Elternteils mit seinem Kind zur Verfügung zu stellen, und können im Einzelfall einer Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers entgegenstehen, der sich um die Wiederherstellung des Umgangs mit seinem Kind bemüht (EGMR, Urt. v. 11.7.2000, 29192/95, InfAuslR 2000, 473)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Umgangsrecht, Aufenthaltstitel, Duldung, Schutz von Ehe und Familie, Familieneinheit, Zumutbarkeit, familiäre Lebensgemeinschaft, Unmöglichkeit der Ausreise, Europäische Menschenrechtskonvention, Eltern-Kind-Verhältnis, Kindeswohl, vorläufiger Rechtsschutz,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 2, GG Art. 6, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

3 Wegen seines Aufenthaltsrechts beruft sich der Antragsteller auf seinen am ... 2013 im Bundesgebiet geborenen Sohn …. Kindesmutter ist die nigerianische Staatsangehörige Frau …. Der Antragsteller und die Kindesmutter, die nicht miteinander verheiratet waren, leben seit 2015 getrennt voneinander. Das Kind … lebt seither bei der Kindesmutter. Beide Eltern haben das gemeinsame Sorgerecht. Polizeiberichte aus den Jahren 2014 bis 2016 dokumentieren körperliche Angriffe des Antragstellers gegen Frau …, die teilweise zu einer Anklage und in einem Fall zu einem Strafbefehl führten. Mit Unterstützung des Fachamtes für Jugend- und Familienhilfe wurden ab 2018 Umgangsregelungen getroffen. Seit Juli 2019 finden keine Umgangskontakte zwischen dem Antragsteller und dem Kind … mehr statt. Seit Dezember 2019 ist eine sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII eingerichtet. Im März 2020 beantragte der Antragsteller beim Familiengericht des Amtsgerichts … eine Umgangsregelung. Für den 22. Juli 2020 ist dort eine Anhörung terminiert. [...]

7 Der Antragsteller macht ohne Erfolg geltend, dass seine Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG begründet sei (1.), jedenfalls aber offene Erfolgsaussichten bestünden (2.). [...]

10 [...] Das Verwaltungsgericht geht zwar unzutreffend davon aus, dass eine aufenthaltsrechtliche Schutzwirkung von Art. 6 GG zwingend stets den berechtigten Aufenthalt eines Familienmitgliedes – hier des Kindes … – voraussetzt, woran es fehle, wenn weder ein Aufenthaltstitel erteilt sei noch ein Anspruch darauf bestehe. Bei der Berücksichtigung von Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK als ein Ausreise- oder Abschiebungshindernis insbesondere im Rahmen von § 25 Abs. 5 AufenthG oder § 60a Abs. 2 AufenthG kommt es maßgeblich darauf an, ob eine familiäre Lebensgemeinschaft in zumutbarer Weise ausschließlich im Bundesgebiet aufrechterhalten werden kann. Insoweit ist es im rechtlichen Ausgangspunkt grundsätzlich weder zwingend notwendig noch für sich genommen hinreichend, dass ein Familienmitglied über einen Aufenthaltstitel verfügt oder einen Anspruch auf die Erteilung eines solchen hat. Die Fortführung der familiären Lebensgemeinschaft außerhalb des Bundesgebietes, insbesondere in einem gemeinsamen Herkunftsland, kann auch dann zumutbar sein, wenn ein Teil der Familienmitglieder über einen Aufenthaltstitel verfügt oder ein deutscher Staatsangehöriger zu dieser Familie gehört (BVerwG, Urt. v. 30.7.2013, 1 C 15.12, BVerwGE 147, juris Rn. 15, 17). Andererseits kann es ausnahmsweise Konstellationen geben, in denen weder die freiwillige Ausreise noch die Abschiebung des einen Familienmitgliedes möglich ist, der über kein Aufenthaltsrecht verfügt, mit der Folge, dass die familiäre Lebensgemeinschaft in zumutbarer Weise nur im Bundesgebiet aufrechterhalten werden kann. Dann kann eine Abschiebung auch ohne berechtigten Aufenthalt eines Familienangehörigen rechtlich unmöglich sein (OVG Lüneburg, Beschl. v. 9.12.2019, 8 ME 92/19, AuAS 2020, 30, juris Rn. 8). [...]

14 bb) Soweit der Antragsteller daneben geltend macht, dass die Anbahnung von Umgangskontakten sowie die Prozessführung im familiengerichtlichen Umgangsverfahren unter dem Schutz des Art. 6 GG stehe, zeigt er damit nicht auf, dass hieraus ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG folgen würde. Das Verwaltungsgericht hat dies unter Hinweis auf die Möglichkeit einer vorübergehenden Duldung (Beschluss Seite 15) zutreffend verneint. Art. 6 GG und Art. 8 EMRK begründen zwar unter anderem grundsätzlich eine Pflicht des Staates, Verfahren zur Wahrung des Umgangsrechts eines Elternteils mit seinem Kind zur Verfügung zu stellen, und können im Einzelfall einer Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers entgegenstehen, der sich um die Wiederherstellung des Umgangs mit seinem Kind bemüht (EGMR, Urt. v. 11.7.2000, 29192/95, InfAuslR 2000, 473). Eine so verstandene Vorwirkung etwa für das aufenthaltsrechtliche Erfordernis einer familiären Lebensgemeinschaft (hierzu: Marx, AufenthR-HdB, 7. Aufl. 2020, § 25 Rn. 242 f.) führt aber nicht schon zu einem Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. [...]