VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 07.12.2020 - 12 S 3065/20 - asyl.net: M29185
https://www.asyl.net/rsdb/M29185
Leitsatz:

Ausweisungsinteresse bei aktueller und rechtskräftiger strafrechtlicher Verurteilung:

"[1.] Liegt bei einem Ausländer eine aktuelle und verwertbare rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung vor, besteht grundsätzlich ein spezial- bzw. generalpräventives Ausweisungsinteresse im Sinne des § 5 Abs. 1 N. 2 AufenthG.

[2.] Darüber hinaus bedarf es für die Versagung eines Aufenthaltstitels keiner von der Ausländerbehörde bzw. dem Verwaltungsgericht zu leistenden konkreten Prognose, dass der Aufenthalt des Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt tatsächlich gefährdet [...]."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Straftat, Ausweisungsinteresse, Aufenthaltstitel, Ausreisefrist, Rückkehrentscheidung, Einreisesperre, Verurteilung, Generalprävention, Spezialprävention,
Normen: AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 11 Abs. 5, AufenthG § 54,
Auszüge:

[...]

IV. Die Ablehnung der am 07.12.2017 beantragten Verlängerung der zuletzt bis 07.12.2017 gültigen Aufenthaltserlaubnis nach § 34 Abs. 2 AufenthG in Ziffer II. des angefochtenen Bescheids des Regierungspräsidiums Freiburg lässt keine Rechtsfehler erkennen. Unabhängig von der Frage, ob - wie das Verwaltungsgericht unter Heranziehung des Beschlusses des erkennenden Gerichtshofs vom 21.01.2020 (11 S 3477/19 -, juris) angenommen hat - der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ein in Anknüpfung an eine Ausweisung wirksames und rechtmäßiges Einreise- und Aufenthaltsverbot entgegensteht, scheitert die Verlängerung unzweifelhaft an der fehlenden Erfüllung der Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG.

1. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG i.V.m. § 8 Abs. 1 AufenthG setzt die Verlängerung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsinteresse besteht. Der Antragsteller erfüllt die Voraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG jedenfalls aufgrund der seit dem 12.07.2019 rechtskräftigen Verurteilung durch das Amtsgericht ... zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Monaten nicht mehr. Diese wurde wegen Körperverletzung in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Freiheitsberaubung, wegen Missbrauchs von Notrufen, Beleidigung, vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubten Erwerb von Betäubungsmitteln sowie wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte verhängt. Aus der Auskunft aus dem Zentralregister vom 21.10.2020 ist die Verurteilung des Amtsgerichts ... vom 21.11.2018 ersichtlich. Im Übrigen sind weitere fünf, bis in das Jahr 2013 zurückreichende Verurteilungen - überwiegend zu Geldstrafen - aufgeführt.

a) Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.07.2018 kommt es für das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht darauf an, ob der Ausländer tatsächlich ausgewiesen werden könnte. Vielmehr reicht es aus, dass ein Ausweisungsinteresse gleichsam abstrakt - d.h. nach seinen tatbestandlichen Voraussetzungen - vorliegt, wie es insbesondere im Katalog des § 54 AufenthG normiert ist. Die jetzige Fassung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG mit der darin verwendeten Formulierung "Ausweisungsinteresse" statt "Ausweisungsgrund" in der Vorgängerfassung stellt nach den Gesetzesmaterialien lediglich eine Folgeänderung zur Neuordnung des Ausweisungsrechts in den §§ 53 ff. AufenthG dar (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 25.02.2015, BT-Drs. 18/4097 S. 35), weshalb die zu § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG a.F. und inhaltlich entsprechenden Vorläufervorschriften ergangene Rechtsprechung auf § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG n.F. übertragbar ist (BVerwG, Urteil vom 12.07.2018 - 1 C 16.17 -, juris Rn. 15; so etwa auch Hailbronner, AuslR, § 5 Rn. 26 ff. <Stand: Oktober 2019>; Maor in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 5 Rn. 8 <Stand. 01.03.2020>).

b) § 5 Abs. 1 Nr. 2 steht daher der Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels entgegen, wenn im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt für das Verpflichtungsbegehren, d.h. grundsätzlich demjenigen der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz (BVerwG, Urteil vom 26.05.2020 - 1 C 12.19 -, juris Rn. 20), ein aktuelles und verwertbares Ausweisungsinteresse vorliegt und zudem die Voraussetzungen einer Abweichung vom Regelfall zu verneinen sind. Ein Ausnahmefall ist bei besonderen, atypischen Umständen gegeben, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, aber auch dann, wenn entweder aus Gründen höherrangigen Rechts wie Art. 6 oder Art. 2 Abs. 1 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 GRCh eine Titelerteilung geboten ist (BVerwG, Urteil vom 15.08.2019 - 1 C 23.18 -, juris Rn. 30; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.11.2020 - 11 S 2637/20 -, juris Rn. 56; Axer in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, § 5 AufenthG, Rn. 12 <Stand: 01.10.2020>).

Ein Ausweisungsinteresse, dem - wie etwa im Falle des § 54 Abs. 1 Nr. 1b AufenthG - eine rechtskräftig abgeurteilte Straftat zugrunde liegt und deren Eintrag im Zentralregister nach § 46 BRZG noch nicht getilgt oder tilgungsreif ist, besteht in der Regel aktuell (vgl. Samel in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 5 Rn. 54; siehe auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 18.11.2009 - 13 S 2002/19 -, juris Rn. 37). Es gibt auch keinen Hinweis darauf, dass die Verurteilung durch das Amtsgericht ... vom 21.11.2018 als Ausweisungsinteresse verbraucht wäre (vgl. zu den Anforderungen an den Verbrauch eines Ausweisungsinteresses BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 39; Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 5 Rn. 66 ff. <Stand: September 2018>).

In der vorliegenden Konstellation bedarf es für die Annahme des Ausweisungsinteresses i.S.v. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG keiner, von der Ausländerbehörde bzw. dem Verwaltungsgericht zu leistenden konkreten Prognose dahingehend, dass der Aufenthalt des Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt tatsächlich gefährdet. Den gegenteiligen Überlegungen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg im Urteil vom 19.04.2017 (11 S 1967/16 -, juris Rn. 25 f.), die sich etwa auch in der Literatur finden (vgl. Axer in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, § 5 AufenthG, Rn. 6 <Stand: 01.10.2020>; Samel in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 5 Rn. 52; Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 5 Rn. 58 ff. <Stand: September 2018>; Bender/Leuschner in: Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 5 Rn. 18), ist das Bundesverwaltungsgericht in seinem diese Entscheidung aufhebenden Urteil vom 12.07.2018 (1 C 16.17 -, juris) nicht gefolgt. Die Frage, ob bei einem Ausweisungsinteresse, das allein auf § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG gestützt wird, die gefahrenabwehrrechtliche Intention des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (ausnahmsweise) eine solche Feststellung erfordern kann (vgl. Hailbronner, AuslR, § 5 Rn. 31b <Stand: Oktober 2019>; siehe auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.11.2020 - 11 S 2637/20 -, juris Rn. 41 ff. <für den entschiedenen Fall einer Ordnungswidrigkeit nach § 98 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG>), ist hier nicht relevant.

Liegt bei einem Ausländer eine aktuelle und verwertbare rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung vor, besteht grundsätzlich ein spezial- bzw. generalpräventives Ausweisungsinteresse im Sinne des § 5 Abs. 1 N. 2 AufenthG; zusätzlicher, weiterer Feststellungen zur Frage einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedarf es nicht.

Erst wenn durch den Ausländer konkrete Tatsachen vorgebracht werden, aus denen eine hinreichend gesicherte Grundlage für die Annahme abgeleitet werden kann, er werde in Zukunft nicht mehr straffällig (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 18.11.2009 - 13 S 2002/19 -, juris Rn.37), kommt es in Betracht, dass trotz noch verwertbarer Einträge im Zentralregister § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht entgegensteht. [...]

VI. Die Erfolgsaussichten des Eilverfahrens hinsichtlich der Androhung der Abschiebung (Ziffern III. bis V.) und des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die Dauer von acht Jahren aufgrund der Ausweisung (Ziffer VI.) sind im Sinne des Prozesskostenhilferechts offen gewesen.

1. Die Androhung der Abschiebung in die Dominikanische Republik aus der Haft ohne Setzen einer Frist für die freiwillige Ausreise (vgl. Ziffer III. u. IV der Verfügung des Regierungspräsidiums Freiburg vom 25.05.2020) erfolgt ausweislich der Begründung des Bescheids (S. 16) mit Blick auf die sofort vollziehbare Ausreisepflicht aufgrund der Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis (§ 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 50 Abs. 1, § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Sie ist dem Bescheid zufolge damit nicht Folge der Ausweisung, die im Übrigen auch nicht unmittelbar Gegenstand des Verfahrens des vorläufigen Rechtschutzes ist, da das Regierungspräsidium nicht deren sofortige Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet hat.

a) Die nicht eingeräumte Frist zur freiwilligen Ausreise beruht auf § 59 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG. Nach nationalem Recht dient eine Ausreisefrist dazu, eine Abschiebung durch eine freiwillige Ausreise vermeiden zu können. Sie bezweckt ferner, dem Ausländer zu ermöglichen, seine Lebensverhältnisse in Deutschland abwickeln und ggfs. ein Rechtsschutzverfahren betreiben zu können. Ausgehend hiervon wird § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG als ein - gegenüber § 59 Abs. 1 Satz 2 AufenthG - spezieller Fall angesehen, in dem die Setzung einer Ausreisefrist entbehrlich ist, weil im Falle der Abschiebung aus der Haft ohnehin keine freiwillige Ausreise möglich ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.03.2017 - 11 S 2029/16 -, juris Rn. 78). § 59 Abs. 5 Satz 2 AufenthG sieht vor, dass die Abschiebung mindestens eine Woche vorher angekündigt werden soll, d.h. der Ausländer wird aus der Haft abgeschoben und hierüber in der Regel eine Woche vorher informiert (Kluth in: Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, § 59 Rn. 23 <Stand: 01.10.2020>; vgl. auch Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 59 Rn. 172 <Stand: Dezember 2016>). Der Zweck der Regelung, mit Bezug auf die konkret vorgesehene Abschiebung die Regelung der persönlichen Angelegenheit zu ermöglichen und ggfs. mit Blick auf die Abschiebung um Rechtsschutz nachsuchen zu können (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.08.2005 - 1 C 29.04 -, juris 18), dürfte aber nicht schon dann gewahrt sein, wenn eine solche Ankündigung - wie hier - im Voraus in den Gründen der angefochtenen Verfügung (S. 16) erfolgt.

b) § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG ist jedoch im Lichte von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115/EG vom 16.12.2008 (ABl. L 348 vom 24.12.2008, S. 98) - RFRL - anzuwenden (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.03.2017 - 11 S 2029/16 -, juris Rn. 90 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 08.05.2019 - 18 B 176/19 -, juris Rn. 21 ff.; Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 59 Rn. 172 <Stand: Dezember 2016>; siehe dazu, dass Drittstaatsangehörige, die aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind, nicht gemäß Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RFRL dem Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie entzogen sind, BVerwG, Beschlüsse vom 06.05.2020 - 1 C 14.19 -, juris Rn. 2 ff., und vom 09.05.2019 - 1 C 14.19 -, juris Rn. 37; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.03.2017 - 11 S 2029/16 -, juris Rn. 82 ff.). [...]

c) Ausgehend hiervon kann die von Art. 7 Abs. 4 RFRL verlangte einzelfallbezogene Beurteilung des Bestehens einer von dem Verhalten des Antragstellers ausgehenden tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, aus einer zu spezialpräventiven Zwecken erlassenen Ausweisung folgen, die - nach Art. 6 Abs. 6 RFRL - mit der Abschiebungsandrohung verbunden ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.03.2017 - 11 S 2029/16 -, juris Rn. 94 f.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 08.05.2019 - 18 B 176/19 -, juris Rn. 28). Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in einem nicht veröffentlichten Einstellungsbeschluss vom 14.02.2018 (1 C 20.17) ausgeführt, es sei bislang nicht höchstrichterlich geklärt, ob und ggfs. unter welchen Voraussetzungen die Abschiebung aus der Haft heraus ohne Setzen einer Frist zur freiwilligen Ausreise auf der Grundlage des § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG mit der Richtlinie 2008/115/EG vom 16.12.2008 in Einklang steht. Es entspricht allerdings mittlerweile der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass in den Fällen der Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG im Einklang mit Art. 7 Abs. 4 RFRL und dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 11.06.2015 (C-554/13 - Z.Zh; I.O.) keine Frist für eine freiwillige Ausreise gewährt werden muss. Denn in den Fällen des § 58a AufenthG liegt bereits in der einzelfallbezogenen Prüfung und Feststellung des Tatbestandes die vom Gerichtshof verlangte einzelfallbezogene Beurteilung, ob das persönliche Verhalten des betreffenden Drittstaatsangehörigen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, die so gravierend ist, dass von einer Fristsetzung zur freiwilligen Ausreise ganz abgesehen werden muss (BVerwG, Urteile vom 06.02.2019 - 1 A 3.18 -, juris Rn. 81, vom 27.03. 2018 - 1 A 4.17 -, juris Rn. 86, und vom 22.08.2017 - 1 A 3.17 -, juris Rn. 35; Beschluss vom 13.07.2017 - 1 VR 3.17 -, juris Rn. 70). Insoweit ist auch mit Bezug auf das Verhältnis Ausweisung und Art. 7 Abs. 4 RFRL kein offensichtlicher Klärungsbedarf mehr ersichtlich (ebenso OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 08.05.2019 - 18 B 176/19 -, juris Rn. 32).

d) Im vorliegenden Fall ist ausweislich der Begründung des Bescheids (S. 16) die Abschiebung aus der Haft ohne Setzen einer Frist zur freiwilligen Ausreise unter Bezugnahme auf § 59 Abs. 5 AufenthG nicht wegen der Ausweisung angedroht worden, sondern weil die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abgelehnt worden ist. Der Titelversagung, mit der entsprechend Art. 6 Abs. 6 RFRL unmittelbar die Illegalität des Aufenthalts herbeigeführt worden ist (vgl. hierzu auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17.08.2018 - 11 S 1776/18 -, juris Rn. 8), wohnt jedoch keine umfassende Prüfung des Einzelfalls im Sinne der oben genannten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union inne. Selbst wenn einiges dafür sprechen dürfte, dass es in einem solchen Fall den Anforderungen des Art. 7 Abs. 4 RFRL genügt, wenn die Versagung des Titels über die Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AufenthG mittelbar auf die Ausweisung zurückgeführt wird bzw. jedenfalls innerhalb der Begründung, weshalb der Betroffene nach § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG aus der Haft ohne Setzen einer Frist für die freiwillige Ausreise abgeschoben wird, auf - den Anforderungen des Art. 7 Abs. 4 RFRL genügende - Erwägungen zur Ausweisung verwiesen wird, steht dies der Gewährung von Prozesskostenhilfe nicht entgegen. [...]

Im Übrigen stützt sich die Ausweisungsverfügung (S. 9 f.) auch auf generalpräventive Erwägungen, was jedoch nicht dem Maßstab des Art. 7 Abs. 4 RFRL entspricht, wie er durch den Gerichtshof der Europäischen Union mit Bezug auf die Gefahr für die öffentliche Ordnung ausgeformt worden ist. Unionsrechtlich kommt es darauf an, ob das persönliche Verhalten des Drittausländers eine solche Bedrohung begründet (EuGH, Urteil vom 11.06.2015, - C-554/13 - Z.Zh.; I.O. -, juris Rn. 61). Ein undifferenzierter Verweis auf die Erwägungen einer Ausweisungsverfügung, die sowohl spezial- als auch generalpräventiv begründet ist, genügt daher nicht. [...]

3. Prozesskostenhilfe ist auch hinsichtlich des vom Regierungspräsidium ver-fügten Einreise- und Aufenthaltsverbots für die Dauer von acht Jahren zu gewähren (Ziffer VI. des angefochtenen Bescheids). Die Länge der Frist des auf-grund der Ausweisung erlassenen Verbots dürfte ermessensfehlerhaft sein. [...]

b) Im angefochtenen Bescheid (vgl. S. 19) ist zur Begründung des verfügten Einreise- und Aufenthaltsverbots auf die Ausführungen unter Ziffer II. zum Ausweisungsinteresse verwiesen und ausgeführt worden, dass unter Abwägung aller Gesichtspunkte derzeit eine Sperrfrist von acht Jahren erforderlich und angemessen sei, um dem in der Person des Antragstellers liegenden Gefahrenpotential Rechnung tragen zu können. Dass das Regierungspräsidium im Rahmen der ihm obliegenden Ermessensentscheidung für die Bestimmung der Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots (vgl. § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) eine Relativierung der aus Gründen der Gefahrenabwehr für erforderlich gehaltenen Frist anhand der persönlichen Belange des Antragstellers geprüft hat, lässt sich der Begründung nicht entnehmen, was auf einen Ermessensfehler im Sinne des § 114 Satz 1 VwGO hinweist. [...]

c) Im Übrigen dürfte die Länge des Einreise- und Aufenthaltsverbots auch des-halb einer näheren Prüfung bedürfen, weil die vom Regierungspräsidium vorgenommene Gewichtung der vom Antragsteller begangenen Straftaten im Rahmen der Gefahrenprognose wohl nicht alle Umstände des Einzelfalls hinreichend in den Blick nimmt. [...]

d) Ferner lässt sich aus dem angefochtenen Bescheid schließen, dass das Regierungspräsidium die Integration des Antragstellers im Bundesgebiet (auch) vor dem Hintergrund der begangenen Straftaten und der damit verbundenen Inhaftierung letztlich als gescheitert betrachtet (S. 15), was sich - durch den Verweis bei Bestimmung der Länge des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf die Ausführungen zur Ausweisung (S. 19) - zudem bei der Entscheidung nach § 11 Abs. 3 AufenthG niederschlägt. Vom Ausländer begangene Delikte vermindern jedoch nicht zwangsläufig den Grad der Integration. Die Straftaten des Ausländers und die Gefahr ihrer Wiederholung sind Elemente, die gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK im Rahmen der Rechtfertigung eines Eingriffs in das Recht des Antragstellers auf Achtung seines Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK einzustellen und gegen dessen Integration abzuwägen sind (vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 12.03.2020 - 2 B 19/20 -, juris Rn. 27; siehe auch zur Notwendigkeit der gewichtenden Gesamtbewertung der Lebensumstände des Ausländers bei der Prüfung von Art. 8 EMRK BVerfG, Beschlüsse vom 21.02.2011 - 2 BvR 1392/10 -, juris Rn. 21, und vom 29.01.2020 - 2 BvR 690/19 -, juris Rn. 21.).

Eingriffe in Rechte aus Art. 8 Abs. 1 EMRK müssen verhältnismäßig sein. Auch verfassungsrechtlich markiert in materieller Hinsicht der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Grenze für die Einschränkung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf das sich der Antragsteller, dessen Aufenthaltsrecht entzogen wird, berufen kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.08.2020 - 2 BvR 640/20 -, juris Rn. 23). Ausgehend von den Straftaten des Antragstellers und unter Berücksichtigung seines seit seiner Kindheit etwa zwei Jahrzehnte währenden legalen Aufenthalts im Bundesgebiet mit den hier geknüpften Bindungen dürfte die Unverhältnismäßigkeit eines acht Jahre währenden Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht von der Hand zu weisen sein (vgl. hierzu auch BVerwG, Urteil vom 13.12.2012 - 1 C 20.11 -, juris Rn. 35 ff.: [...]