OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 24.11.2020 - 1 LB 351/20 (Asylmagazin 1-2/2021, S. 24 ff.) - asyl.net: M29195
https://www.asyl.net/rsdb/M29195
Leitsatz:

Kein sicheres Existenzminimum in Afghanistan mehr für alleinstehende, gesunde junge Männer:

"1. Nach der aktuellen Erkenntnislage ist derzeit nicht mehr an dem Grundsatz festzuhalten, dass jeder alleinstehende, gesunde junge Mann im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, dort wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu führen (so bereits OVG Bremen, Urt. v. 22.09.2020 – 1 LB 258/20, juris) (Rn.28).

2. Aus den seit März 2020 weiter erheblich verschlechterten humanitären Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben sich auch für junge, alleinstehende und arbeitsfähige Rückkehrer höhere Anforderungen an die individuelle Belastbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit, um ihre elementarsten Bedürfnisse an Nahrung und Obdach zu befriedigen. Ob eine solche Belastbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit vorliegt, ist im Rahmen einer sorgfältigen Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls zu ermitteln, die nachteilige Faktoren, aber auch begünstigende Umstände des jeweils Betroffenen berücksichtigt (Rn.41)."

(Amtliche Leitsätze; Aufgabe der Rechtsprechung des OVG Bremen, Urteil vom 12.02.2020 - 1 LB 276/19 - asyl.net: M28504)

Schlagwörter: Afghanistan, Existenzgrundlage, Existenzminimum, Corona-Virus,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

28 b) Nach der aktuellen Erkenntnislage sind die Lebensbedingungen und die Versorgungslage in Afghanistan aufgrund der fortwährenden Handlungen verschiedener Konfliktparteien sehr problematisch (aa). Die prekären humanitären Bedingungen haben sich durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie noch weiter verschärft und sich derzeit auf einem – im Vergleich zum Februar 2020 – erheblich schlechteren Niveau verstetigt (bb). Vor diesem Hintergrund ist derzeit nicht mehr an dem Grundsatz festzuhalten, dass jeder alleinstehende, gesunde junge Mann im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, dort wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu führen (vgl. bereits OVG Bremen, Urt. v. 22.09.2020 – 1 LB 258/20, juris; dazu unter cc). Nach der derzeitigen Erkenntnislage ergeben sich auch für junge, alleinstehende und arbeitsfähige Rückkehrer höhere Anforderungen an die individuelle Belastbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit, um ihre elementarsten Bedürfnisse an Nahrung und Obdach zu befriedigen. Ob eine solche Belastbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit vorliegt, ist im Rahmen einer sorgfältigen Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls zu ermitteln, die nachteilige Faktoren, aber auch begünstigende Umstände des jeweils Betroffenen berücksichtigt (dd). Hiernach hat der Kläger auch unter Zugrundlegung des strengen Maßstabs nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes (ee).

29 aa) Afghanistan ist mit seinen geschätzt bis zu 37 Millionen Einwohnern, von denen über 40 Prozent unter 15 Jahre alt sind, ein Vielvölkerstaat. 40 Prozent der Bevölkerung sind Paschtunen, 25 Prozent Tadschiken, 10 Prozent Hazara und 6 Prozent Usbeken. 80 Prozent der Bevölkerung sind sunnitische und 19 Prozent schiitische Muslime.

30 Seit Jahrzehnten tragen in Afghanistan wechselnde Gruppierungen mit langjähriger Beteiligung ausländischer Staaten bewaffnete Auseinandersetzungen aus. [...]

31 Die Intervention der USA und der NATO nach dem 11.09.2001 führte zum Sturz der Taliban-Regierung, nicht aber zu dauerhaftem Frieden. [...]

32 Der Abzug eines Großteils der internationalen Truppen in den Jahren 2014 und 2015 verschlechterte die Sicherheitslage weiter (ausführlich dazu HessVGH, Urt. v. 23.08.2019 - 7 A 2750/15.A, juris Rn. 55 ff.). [...]

33 Die schlechte Sicherheitslage hat deutliche Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung und die Möglichkeit zur Verbesserung der Lebensbedingungen weiter Teile der Bevölkerung. [...]

34 Die größeren Städte des Landes sind zudem mit der Ansiedlung einer hohen Zahl der Binnenvertriebenen und der Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan konfrontiert. [...]

35 Auf der Grundlage dieser Erkenntnislage hatte der Senat im Februar dieses Jahres unter Berücksichtigung der unterschiedlich starken Betroffenheit verschiedener Personengruppen entschieden, dass es leistungsfähigen Rückkehrern ohne Unterhaltsverpflichtung gegenüber Dritten überwiegend möglich ist, in Afghanistan eine Erwerbstätigkeit und eine Unterkunft zu finden und zwingend erforderliche medizinische Behandlungen in Anspruch zu nehmen. In Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung ging der Senat davon aus, dass es Männern zwischen 18 und 40 Jahren, die zumindest eine der beiden Landessprachen beherrschten, sowie gesund und alleinstehend seien, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit möglich sein werde, in Kabul als voraussichtlichem Zielort einer Abschiebung ein Leben am Rande des Existenzminimums zu führen, auch wenn sie über keine unterstützungsbereite familiäre Struktur in Afghanistan verfügten (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 12.02.2020 - 1 LB 276/19, juris Rn. 55 ff. und 1 LB 305/18, juris Rn. 71 ff.; im Ergebnis ebenso OVG NRW, Urt. v. 18.06.2019 - 13 A 3930/18.A, juris Rn. 198; BayVGH, Urt. v. 08.11.2018 - 13a B 17.31960, juris Rn. 34; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 29.10.2019 - A 11 S 1203/19, juris Rn. 102; OVG Nds., Urt. v. 29.01.2019 - 9 LB 93/18, juris Rn. 97; HessVGH, Urt. v. 23.08.2019 - 7 A 2750/15.A, juris Rn. 149 f.; OVG Sachsen, Urt. v. 18.03.2019 - 1 A 198/18.A, juris Rn. 78; OVG Rheinl.-Pf., Urt. v. 22.01.2020 - 13 A 11356/19, juris Rn. 68).

36 bb) Im für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) hat sich diese Lage durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie weiter verschlechtert und derzeit auf einem – im Vergleich zum Februar 2020 – erheblich schlechteren Niveau verstetigt.

37 (1) Das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) berichtet von bisher insgesamt 44.133 positiv auf COVID-19 getesteten Personen in Afghanistan. Dieser Wert ergibt sich auf der Grundlage von 133.691 durchgeführten Tests und steht im Verhältnis zu einer Bevölkerungszahl von 37.6 Millionen. Angesichts unzureichender Testkapazitäten sei jedoch von einer hohen Dunkelziffer auszugehen (vgl. OCHA, Strategic Situation Report: COVID-19 No. 84, 19.11.2020, S. 1). Ein Vergleich mit der deutlich höheren Zahl 300.047 positiv getesteter Personen in der Bundesrepublik Deutschland bietet keinen Anhalt für eine geringere Betroffenheit Afghanistans, da der hiesige Wert aus 14.557.136 durchgeführten Testungen ermittelt wurde (vgl. RKI, Epidemiologisches Bulletin 38/2020, Stand: 16.09.2020, S. 16). Am intensivsten betroffen ist die Provinz Kabul und die Bevölkerungsgruppe der Männer zwischen 20 und 39 Jahren, was allerdings auch mit einer Überrepräsentanz dieser Gruppe bei den Testungen begründet wird (vgl. OCHA, Strategic Situation Report: COVID-19 No. 77, 17.09.2020, S. 1). Prognosen gehen von einem weiteren Anstieg der Zahl infizierter und verstorbener Personen in Afghanistan aus (vgl. OCHA, Strategic Situation Report: COVID-19 No. 77, 17.09.2020, S. 1). Es wird berichtet, dass sich auch in Afghanistan derzeit eine zweite Infektionswelle verbreite (vgl. OCHA, Strategic Situation Report: COVID-19 No. 84, 19.11.2020, S. 1). Das afghanische Gesundheitsministerium hält es für möglich, dass sich in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infizieren, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könne (BFA Länderinformationsblatt Afghanistan, Stand: 21.07.2020, S. 13).

38 (2) Nach der Erkenntnislage wurde in Afghanistan bereits zu Beginn des COVID-19 Ausbruchs ein Lockdown verhängt, mit dem die Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste erheblich eingeschränkt worden sind (vgl. BFA Länderinformationsblatt Afghanistan, Stand: 21.07.2020, S. 13 f.). Davon sei insbesondere auch die Tätigkeit der Hilfsorganisationen betroffen gewesen. Rückkehrer würden mit fehlenden Übernachtungsmöglichkeiten konfrontiert (ACCORD, Afghanistan: Covid-19 v. 5.6.2020, S. 7 unter Bezugnahme auf einen Vortrag von Friederike Stahlmann im Mai 2020). Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte seien geschlossen, wenn sie nicht geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet worden seien (BFA Länderinformationsblatt Afghanistan, Stand: 21.07.2020, S. 9). Mittlerweile wird von fortschreitenden Lockerungen berichtet. So sei der Anfang Juni für drei Monate verlängerte landesweite Lockdown zwar offiziell weiter in Kraft, werde von staatlicher Seite jedoch nicht durchgesetzt. Die Wiedereröffnung privater Geschäfte, Universitäten und Heiratshallen ("wedding halls") sei unter der Bedingung des social distancing wieder gestattet worden. Sport Clubs und öffentliche Parks seien weiterhin geschlossen. Private und öffentliche Schulen seien für bestimmte Jahrgangsstufen wieder geöffnet unter der Auflage, dass die Schüler Gesichtsmasken tragen (OCHA, Afghanistan sixth C-19 Access Impediment Report, 24.08.2020, S. 1).

39 (3) Die Pandemie entwickle sich jedoch von einem Gesundheitsnotfall zu einer Nahrungsmittel- und Lebensunterhaltskrise (ACCORD, Afghanistan: Covid-19 v. 05.06.2020, S. 4; OCHA, Strategic Situation Report: COVID-19 No. 84, 19.11.2020, S. 2). Insbesondere die unterbrochenen Versorgungsketten hätten die Nahrungsmittelpreise in die Höhe getrieben. Im Juni 2020 seien die Preise fast aller Grundnahrungsmittel zwischen 15 und 40 Prozent gestiegen (OCHA, Afghanistan sixth C-19 Access Impediment Report, 24.08.2020, S. 2). Hinzu kämen die sinkenden finanziellen Möglichkeiten der Tagelöhner zum Kauf von Nahrungsmitteln, da es aufgrund der landesweiten Covid-19-Beschränkungen weniger Gelegenheitsarbeit gebe (ACCORD, Afghanistan: Covid-19 v. 05.06.2020, S. 4 f.). Hunderttausende Pendler, Händler und Tagelöhner könnten aufgrund des Lockdowns der Innenstädte kein Einkommen mehr generieren (vgl. Konrad-Adenauer-Stiftung, Länderbericht Afghanistan, Juli 2020, S. 5). Laut der Organisation Save the Children sei ein Drittel der Bevölkerung, darunter über sieben Millionen Kinder, von Nahrungsmittelengpässen betroffen. Die Situation habe sich so zugespitzt, dass die afghanische Regierung über die Bäckereien Brot an die Bevölkerung verteilen lasse (vgl. Tagesschau: "Coronavirus in Afghanistan: Mit dem Virus droht der Hunger", 03.05.2020, www.tagesschau.de/ausland/afghanistan-coronavirus-101.html; www.aljazeera.com/news/2020/05/09/shootout-at-afghanistan-food-aid-event-kills-six/; BFA Länderinformationsblatt Afghanistan, Stand: 21.07.2020, S. 14). Mittlerweile sind zwar die in der ersten Jahreshälfte 2020 sprunghaft angestiegenen Nahrungsmittelpreise wieder etwas gesunken. Es kann jedoch festgestellt werden, dass sich die Preise für fast alle Grundnahrungsmittel nunmehr auf einem im Vergleich zum März 2020 zwischen 7 und 31 Prozent gestiegenen Niveau stabilisiert haben (vgl. vam, Afghanistan: Countrywide Monthly Market Price Bulletin, 07.09.2020, S. 1, abrufbar unter: reliefweb.int/country/afg; vgl. zur Entwicklung auch die a.a.O. abrufbaren Weekly Market Price Bulletins). Das Auswärtige Amt geht davon aus, dass die mit der COVID-19- Krise einhergehende wirtschaftliche Rezension private Haushalte stark belaste (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Afghanistan vom 16.07.2020, S. 22). Die World Bank Group prognostiziert für das Jahr 2020 eine auf 72 % steigende Armutsquote. Die Auswirkungen auf die afghanische Wirtschaft seien nachhaltig, eine Erholung werde mehrere Jahre dauern und sei von neuen Investitionen abhängig, welche derzeit durch politische Unsicherheiten und die allgemeine Sicherheitslage gehemmt würden (vgl. World Bank Group, Surviving the Storm, July 2020, S. II f.; IFC/Word Bank Group, Impacts of COVID-19 on the Private Sector in Fragile and Conflict-Affected Situations, November 2020, S. 4).

40 (4) Den Erkenntnismitteln lässt sich entnehmen, dass das Angebot von Arbeitsgelegenheiten auf dem Tagelöhnermarkt in Kabul während des Lockdown zeitweise vollständig zum Erliegen gekommen war (vgl. vam, Afghanistan: Countrywide Weekly Market Price Bulletin, Issue 1, 02.06.2020, S. 7). Derzeit besteht wieder die Möglichkeit, eine Gelegenheitsarbeit auf dem Tagelöhnermarkt in Kabul zu erlangen. Im Vergleich zu den pre-COVID-19-Werten soll sich das Arbeitsangebot dort nunmehr wieder auf demselben Niveau befinden (vgl. vam, Afghanistan: Countrywide Weekly Market Price Bulletin, Issue 27, 18.11.2020, S. 7, number of days work available per week in Kabul in March/November 2020: 3 days). Unabhängig von der Belastbarkeit dieser konkreten Zahlen lässt sich den Erkenntnismitteln entnehmen, dass sich die aufgrund der angespannten Arbeitsmarktsituation ohnehin schon große Konkurrenz um solche Gelegenheitsarbeiten durch die mit der Covid-19-Pandemie zusammenhängenden Umstände weiter erheblich verschärft hat. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) berichtet davon, dass seit dem 01.01.2020 695.677 afghanische Staatsangehörige aus dem von der Corona-Pandemie ebenfalls besonders betroffenen Iran nach Afghanistan zurückgekehrt seien (vgl. IOM, Return of undocumented Afghans, weekly situation report, 25-31 October 2020, S. 1, abrufbar unter: reliefweb.int/). Die hohe Zahl der Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan sowie Binnenvertriebener schlage sich ebenfalls in einem Anstieg der Lebenshaltungskosten und einem erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt nieder (Auswärtiges Amt, Lagebericht Afghanistan vom 16.07.2020, S. 4, 18). Zwar erfährt auch die Gruppe der Rückkehrer nunmehr wieder humanitäre Hilfe vor Ort, beispielsweise durch in Herat und Nimroz eingerichtete Transitzentren der IOM. Berichten zufolge profitieren jedoch nur 7 % der Rückkehrer von solchen Hilfen, was mit der notwendigen Fokussierung auf besonders vulnerable Gruppen und der begrenzten finanziellen Ausstattung der Hilfsorganisationen begründet wird (IOM, Return of undocumented Afghans, weekly situation Report, 23-29 August 2020; OCHA, Strategic Situation Report: COVID-19 No. 73, 03.09.2020, S. 2).

41 cc) Vor diesem Hintergrund hat der Senat seine bisherige Rechtsprechung mit Urteil vom 22.09.2020 (Az.: 1 LB 258/20, juris) modifiziert, woran auch für das vorliegende Urteil festzuhalten ist.

42 (1) Hiernach ist auch unter den derzeitigen Bedingungen davon auszugehen, dass nicht jedem Rückkehrer unabhängig von bereits vorhandenen Erfahrungen, Fähigkeiten und finanzieller Ausgangssituation eine Verelendung droht. Für junge, alleinstehende, arbeitsfähige Rückkehrer aus dem europäischen Ausland ohne familiäres Netzwerk in Afghanistan und ohne erhebliche eigene finanzielle Mittel ist es auch unter den erschwerten Gegebenheiten einer von der Pandemie getroffenen afghanischen Wirtschaft nicht ausgeschlossen, sich aus eigener Kraft ein Existenzminimum zu erwirtschaften (grds. verneinend wohl VG Karlsruhe, Urt. v. 15.05.2020 – A 19 K 16467/17, juris Rn. 107 ff.; VG Hannover, Urt. v. 09.07.2020 – 19 A 11909/17, juris Rn. 44; VG Cottbus, Urt. v. 21.08.2020 – 2 K 1561/16.A, juris Rn. 72). Anders als in der ersten Phase der Pandemie bestehen mittlerweile auch für männliche Einzelpersonen wieder Unterkunftsmöglichkeiten in den typischerweise hierzu dienenden Teehäusern (vgl. EASO, Country Guidance: Afghanistan, 2019, S. 133; OVG NRW, Urt. v. 18.06.2019 - 13 A 3930/18.A, juris Rn. 292 f. m.w.N.). Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl berichtete zwar noch im Juli 2020 (Länderinformationsblatt Afghanistan, Stand 21.07.2020, S. 9), dass die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte aufgrund der Covid19-Maßnahmen geschlossen seien, es sei denn sie würden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (unter Verweis auf RA KBL 16.07.2020 sowie OCHA v. 08.07.2020). Nach der wöchentlich aktualisierten Berichtslage des OCHA besteht diese Situation allerdings nicht mehr fort, vielmehr wird von fortschreitenden Lockerungen berichtet (vgl. OCHA, Afghanistan COVID-19 Multi-Sectoral Response, 02.09.2020). Teehäuser und Hotels können, gegebenenfalls unter Aufwendung eines aufgrund etwaiger Illegalität und einer erhöhten Nachfrage gestiegenen Preises, grundsätzlich wieder in Anspruch genommen werden. Insoweit ist es Rückkehrern – gegebenenfalls unter Einsatz finanzieller Rückkehrhilfen (vgl. dazu VG Freiburg, Urt. v. 19.05.2020 – A 8 K 9604/17, juris Rn. 44) – weiterhin möglich, zumindest für eine Übergangszeit in einer der in den Städten vorhandenen Herbergen oder einem der Teehäuser Übernachtungsmöglichkeiten zu finden. Zudem wird es auch unter den derzeitigen schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen weiterhin Rückkehrer geben, die ohne erhebliches Vermögen oder familiäre Unterstützung, mithin allein aus eigener Arbeitskraft, in der Lage sein werden, ein den Anforderungen des Art. 3 ERMK genügendes Einkommen zu erwirtschaften. Angesichts der eingeschränkten Möglichkeiten und des gestiegenen Konkurrenzdrucks sind hierfür jedoch besondere Voraussetzungen bei dem Betroffenen erforderlich, die im Wege einer Gesamtschau zu prüfen sind.

43 (2) Nach der aktuellen Erkenntnislage kann indes nicht mehr an dem Grundsatz festgehalten werden, dass jeder leistungsfähige, alleinstehende und gesunde junge Mann im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu führen (so noch OVG Bremen, Urt. v. 12.02.2020 – 1 LB 276/19, juris Rn. 55 ff. und 1 LB 305/18, juris Rn. 71 ff. m.w.N.).

44 (a) Den Erkenntnismitteln zu der gegenwärtigen Situation lässt sich entnehmen, dass sich insbesondere die Möglichkeit, durch Erwerbsarbeit ein ausreichendes Einkommen für ein Leben am Rande des Existenzminimums zu erzielen, weiter erheblich verschlechtert hat. Auch das Auswärtige Amt geht davon aus, dass sich die bereits zuvor prekäre Lage seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft habe (Auswärtiges Amt, Lagebericht Afghanistan vom 16.07.2020, S. 22 f.). Damit sind auch die Anforderungen an die dort lebende Bevölkerung weiter gestiegen, um ihre elementarsten Bedürfnisse an Nahrung und Unterkunft zu befriedigen. Da sich die verschlechterte Situation insbesondere in einem Anstieg der Nahrungsmittelpreise und zugleich einem weiter erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt auswirkt, ist hiervon auch die bisher diesbezüglich grundsätzlich noch als hinreichend durchsetzungsfähig angesehene Gruppe der jungen, gesunden, alleinstehenden Männer betroffen. Angesichts der aus den Erkenntnismitteln ersichtlichen eingeschränkten Erwerbsmöglichkeiten und des erheblich gestiegenen Konkurrenzdrucks auf dem Arbeits- und insbesondere auf dem Tagelöhnermarkt, erscheint es derzeit nicht mehr nur in Ausnahmefällen als möglich, dass auch ein durchschnittlicher Angehöriger dieser Gruppe, ohne das nach der vorherigen Rechtsprechung noch erforderliche Hinzutreten individueller Einschränkungen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein wird, sich ein Leben am Rande des Existenzminimums in Kabul zu erwirtschaften. Vor diesem Hintergrund kann derzeit nicht mehr regelhaft davon ausgegangen werden, dass es Männern zwischen 18 und 40 Jahren, die zumindest eine der beiden Landessprachen beherrschen, sowie gesund und alleinstehend sind, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit möglich sein wird, in Kabul als voraussichtlichem Zielort einer Abschiebung ein Leben am Rande des Existenzminimums zu führen, auch wenn sie über keine unterstützungsbereite familiäre Struktur in Afghanistan verfügen.

45 (b) Dagegen lässt sich auch nicht durchgreifend einwenden, dass die Kaufkraft eines ungelernten Arbeiters im Vergleich zu den pre-COVID-19-Werten um lediglich 5 % gesunken sei (vgl. dazu den Wert des sog. Terms of Trade [Verhältnis zwischen Getreidepreis und durchschnittlichem Tageslohn], vam, Afghanistan: Countrywide Monthly Market Price Bulletin, 07.09.2020, S. 1, abrufbar unter: reliefweb.int/country/afg). Denn dieser Wert geht von dem durchschnittlichen Tageslohn eines unqualifizierten Arbeitnehmers aus, berücksichtigt aber gerade nicht die nach den vorliegenden Erkenntnismitteln deutlich herabgesetzte Wahrscheinlichkeit, eine Arbeit auf dem Tagelöhnermarkt zu bekommen. Von dem Kaufkraftverlust um 5 % sind nur diejenigen betroffen, denen es überhaupt gelingt, eine durchschnittlich vergütete Tätigkeit auf dem Tagelöhnermarkt zu erlangen. Hierzu ist nach Auffassung des Senats jedoch derzeit nicht jeder junge, arbeitsfähige Rückkehrer in der Lage, sondern angesichts der verschlechterten Umstände und der erhöhten Konkurrenz bedarf es hierfür einer besonderen Belastbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit, um sich unter den ohnehin schwierigen Bedingungen des Tagelöhnermarktes behaupten zu können. Dies bestätigt sich letztlich auch in den Prognosen der Weltbank zu der für 2020 erwarteten Steigerung der Armutsquote auf 72 % (vgl. World Bank Group, Surviving the Storm, July 2020, S. II). Der Durchschnittslohn eines ungelernten Arbeiters in Kabul beträgt etwa 3 Euro am Tag (300 Afghani, vgl. vam, Afghanistan: Countrywide Monthly Market Price Bulletin, 07.09.2020, S. 7; mit einem Tageslohn von 2-3 USD auch BFA, Länderinformationsblatt Afghanistan, Stand: 21.07.2020, S. 327). Angehörige dieser Gruppe werden von der Armutsdefinition der Weltbank (weniger als 1.90 USD pro Tag, vgl. www.worldbank.org/en/topic/poverty/overview) schon nicht erfasst.

46 (c) Die sich aus den kaum noch vorhandenen Verdienstmöglichkeiten für Rückkehrer ergebenden Gefahren einer Verelendung werden auch durch die grundsätzliche Verfügbarkeit von Rückkehrhilfen nicht aufgehoben. In Betracht kommen hier insbesondere die Rückkehrhilfen nach den Programmen "REAG/GARP" und "StarthilfePlus". In dem Programm REAG/GARP werden neben den Reisekosten im engeren und weiteren Sinne für Einzelpersonen einmalig 1.000 EUR ausgezahlt (vgl. dazu OVG Bremen, Urt. v. 26.05.2020 – 1 LB 56/20, juris Rn. 62, sowie die Informationen auf dem entsprechenden Informationsblatt, abrufbar unter www.returningfromgermany.de). Im Rahmen des Programms "StarthilfePlus" können freiwillig Rückkehrende, die mit dem REAG/GARP-Programm ausreisen und die erste Starthilfe erhalten haben, nach sechs bis acht Monaten im Heimatland eine zweite Starthilfe in Höhe von 1.000 Euro für eine Einzelperson erhalten (vgl. www.returningfromgermany.de). Zwar kann davon ausgegangen werden, dass diese finanziellen Leistungen in Kabul auch unter den derzeitigen Bedingungen für einige Monate jedenfalls ein Leben am Rande des Existenzminimums ermöglichen. Allerdings werden Ersparnisse und Starthilfen zweifellos irgendwann aufgebraucht sein, weshalb auf diese Mittel dauerhaft nicht entscheidend abgestellt werden kann (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17, juris Rn. 437; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 18.06.2019 – 13 A 3741/18.A, juris Rn. 276; VG Freiburg, Urt. v. 08.09.2020 – A 8 K 10988/17, juris Rn. 63). Die finanziellen Mittel aus diesen Programmen bewirken lediglich einen zeitlichen Aufschub, sie können jedoch die Wahrscheinlichkeit des Eintritts der zu befürchtenden Verelendung nur unwesentlich vermindern, da mit ihnen weder ein Zugang zum Arbeitsmarkt, noch die Versorgung mit Lebensmitteln und Unterkunft nachhaltig gesichert wird (vgl. VG Hannover, Urt. v. 09.07.2020 – 19 A 11909/17, juris Rn. 45; VG Hamburg, Urt. v. 07.08.2020 – 1 A 3562/17, juris Rn. 59; VG Cottbus, Urt. V. 21.08.2020 – 2 K 1561/16.A, juris Rn. 87).

47 (d) Der Annahme einer beachtlichen Gefahr einer Verelendung steht letztlich auch nicht entgegen, dass trotz zahlreicher über die Situation in Afghanistan berichtender Organisationen keine Berichte vorliegen, nach denen gerade auch leistungsfähige, erwachsene männliche Rückkehrer in Afghanistan in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären. Dieses wiederholt in der obergerichtlichen Rechtsprechung angeführte Argument vermag weder in seinem rechtlichen Ausgangspunkt noch in tatsächlicher Hinsicht zu überzeugen (vgl. bspw. BayVGH, Urt. v. 06.07.2020 – 13a B 18.32817, juris Rn. 63; OVG Niedersachsen, Urt. v. 29.01.2019 – 9 LB 93/18, juris Rn. 106; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17, juris Rn. 407). 48 Im Rahmen der fiktiven Rückkehrbetrachtung ist maßgeblich, ob es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr ("real risk") läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. [...]

49 Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass von dem erheblichen bei Rückkehrern bestehenden humanitären Bedarf in der afghanischen Bevölkerung (vgl. OCHA, Humanitarian Needs Overview Afghanistan 2020, Dezember 2019, S. 26 ff., sowie OCHA, Humanitarian Response Plan Afghanistan 2018 - 2021, midyear cycle juni 2020, S. 7, 12 f., 55) auch Angehörige der Gruppe junger, alleinstehender Männer betroffen sind, lassen sich den Ergebnissen der finnischen Fact-Finding Mission entnehmen (vgl. dazu VG Hannover, Urt. v. 09.07.2020 – 19 A 11909/17, juris Rn. 41, 65 unter Verweis auf Finnish Immigration Service, Afghanistan: Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Situation of Returnees in Kabul, 15.10.2019, S. 11 f., 14 - 17). In Bezug auf die Erwerbsmöglichkeiten bestätigt sich die Betroffenheit auch dieser Gruppe bereits in vor Ausbruch des Coronavirus durchgeführten Befragungen. Hinsichtlich der im Verhältnis zu den Rückkehrern aus Pakistan und Iran kleinen Gruppe der Rückkehrer aus Europa erbrachten vier von fünf Studien, dass – trotz teilweise vorhandener sozialer Netzwerke – jeweils die Mehrheit der Befragten keine Arbeit gefunden hatte (REACH, Mixed Migration Platform (MMP), Migration from Afghanistan to Europe (2014-2017), Drivers, Return an Reintegration, Oktober 2017, S. 21; Mixed Migration Center (MMC), Distant Dreams, Understanding the Aspirations of Afghan Returnees, Januar 2019, S. 31 f.; BAMF/IOM, Geförderte Rückkehr aus Deutschland: Motive und Reintegration, September 2019, S. 52 f.; Stahlmann, Studie zum Verbleib und zu den Erfahrungen abgeschobener Afghanen, Asylmagazin 2019, 276, 282 f.; Afghanistan Human Rights and Democracy Organisation (AHRDO), Deportation to Afghanistan: A Challenge to State Legitimacy and Stability?, November 2019, S. 17). Nach der Studie des Bundesamtes erzielten 60 % der befragten Rückkehrer überhaupt kein Einkommen aus einer abhängigen oder selbstständigen Beschäftigung (BAMF/IOM, a.a.O., S. 52). Lediglich in der ältesten Studie waren "nur" 40% arbeitslos geblieben, allerdings gaben 19 der 25 darin befragten jungen Rückkehrer an, dass ihre Arbeitssituation so aussichtslos sei, dass sie Afghanistan erneut verlassen müssten (Refugee Support Network (RSN), After Return, Documenting the Experiences of Young People forcibly removed to Afghanistan, April 2016, S. 38, 41 ff.).

50 Im Übrigen erscheint es auch unter Berücksichtigung dieser Berichtslage plausibel, dass es zu einer weitergehenden Zuspitzung allein deshalb nicht kommt, weil die mit einer drohenden Verelendung konfrontierten Personen versuchen, die existentielle Not abzuwenden, indem sie erneut illegal ausreisen oder zu rechtswidrigen Mitteln der Existenzsicherung greifen, nämlich in der Kriminalität oder dem Anheuern bei aufständischen Gruppierungen (vgl. VG Hannover, Urt. v. 09.07.2020 – 19 A 11909/17, juris Rn. 65 unter Verweis auf Stahlmann, Asylmagazin 2019, 285 und ein Interview mit Hadi Marifat, Zeit Online v. 27.11.2019). Auch der diesbezügliche Druck wird sich durch die derzeit verschärften humanitären und wirtschaftlichen Bedingungen weiter erhöhen. Dementsprechend gaben im Rahmen einer Befragung von 409 Familien mehr als 48 Prozent an, den mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie verbundenen Einkommensverlusten durch ein Engagement in illegalen Aktivitäten begegnet zu sein (OCHA, Strategic Situation Report: COVID-19 No. 71, 27.08.2020, S. 2). Solche Existenzsicherungswege mögen in tatsächlicher Hinsicht drohende Verelendungen abwenden, sie sind aber im Rahmen der nach § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellenden Prognose nicht zu berücksichtigen.

51 (e) Bei der vorstehenden Auswertung der entscheidungserheblichen Sachlage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) kann es sich aufgrund der dynamischen Entwicklung des Infektionsgeschehens nur um eine "Momentaufnahme" handeln. Der weitere Verlauf des Infektionsgeschehens und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Situation bestimmter Bevölkerungsgruppen lassen sich nicht mit Sicherheit vorhersehen. Auch wenn eine verlässliche Einschätzung der weiteren Auswirkungen der Pandemie nicht möglich ist (vgl. BayVGH, Urt. v. 01.10.2020 – 13a B 20.31004, juris Rn. 48), kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass es sich bei der derzeitigen Zuspitzung der humanitären Lage in Afghanistan um ein temporäres Phänomen mit der Aussicht auf alsbaldige entscheidungserhebliche Verbesserungen handeln würde. Für den hier relevanten Bereich der wirtschaftlichen Situation Afghanistans liegen bezüglich der mittelfristigen Entwicklungen hinreichende Expertisen vor, denen jedenfalls nicht zu entnehmen ist, dass sich die gegenwärtige Situation kurz- oder mittelfristig erheblich verbessern wird (vgl. World Bank Group, Surviving the Storm, July 2020, S. II f.; IFC/Word Bank Group, Impacts of COVID-19 on the Private Sector in Fragile and Conflict-Affected Situations, November 2020, S. 4).

52 dd) Hiernach genügt allein die Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und die Beherrschung einer der Landessprachen nicht mehr für die Annahme, dass junge alleinstehende Männer sich in Afghanistan ein Leben am Rande des Existenzminimums werden erwirtschaften können. Vor dem Hintergrund, dass sich die humanitären Lebensbedingungen in Afghanistan seit März 2020 weiter erheblich verschlechtert haben, ergeben sich auch für Rückkehrer, die diese Eigenschaften aufweisen, höhere Anforderungen an die individuelle Belastbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit. Ob eine solche Belastbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit vorliegt, ist im Rahmen einer sorgfältigen Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls zu ermitteln, die nachteilige Faktoren, aber auch begünstigende Umstände des jeweils Betroffenen berücksichtigt. [...]