VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 28.10.2020 - 5 A 137/20 HAL - asyl.net: M29199
https://www.asyl.net/rsdb/M29199
Leitsatz:

Abschiebungsverbot wegen drohender Untersuchungshaft in der Russischen Föderation:

1. Aufgrund der schlechten Haftbedingungen in den russischen Untersuchungsgefängnissen droht einer in Russland strafrechtlich verfolgten Person eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK.

2. Dies gilt jedenfalls dann, wenn keine Zusicherung der russischen Behörden vorliegt, die betroffene Person für die Dauer des Strafverfahrens in einer konkreten Untersuchungshaftanstalt zu inhaftieren, die den menschenrechtlichen Mindestanforderungen gerecht wird.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, Haftbedingungen, Abschiebungsverbot, EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention, EGMR, Zusicherung, Strafverfahren, Untersuchungshaft,
Normen: EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Dem Kläger droht im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung. Der Kläger wird – wie er glaubhaft vorträgt – in der Russischen Föderation wegen Betrugs gesucht. Keiner Prüfung bedarf es, ob der Kläger diese Straftat tatsächlich begangen hat. Es genügt, dass er voraussichtlich bei der Einreise in die Russische Föderation von den staatlichen Behörden festgenommen und einer strafrechtlichen Verfolgung unterzogen wird. Anhand des Vortrages erscheint eine Verurteilung gemäß den allgemein bekannten russischen Verhältnissen auch als wahrscheinlich.

Schon die Haftbedingungen in russischen Untersuchungsgefängnissen verstoßen in zahlreichen Fällen gegen Art. 3 EMRK. So verweist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in dem Pilotverfahren vom 10. Januar 2012 (Case of Ananyev and others v. Russia, Applications nos. 42525/07 and 60800/08) Rn. 235 auf die von ihm festgestellten strukturellen Probleme und stellt bei den Beschwerdeführern einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK fest. Es fehlt in den Erkenntnismitteln an Anhaltspunkten für die Annahme, dass in der Russischen Föderation eine flächendeckende Verbesserung der Haftbedingungen zu beobachten ist. Es ist allerdings festzustellen, dass es Verbesserungen gibt und neuere Haftanstalten die Bedingungen der Europäischen Menschenrechtskonvention erfüllen, das gilt aber gerade nicht für den überwiegenden Teil der genutzten Haftanstalten. Das zuvor Ausgeführte gilt auch für den Strafvollzug in der Russischen Föderation.

Drohen erkennbar solche Verstöße gegen Art. 3 EMRK, so scheidet die Abschiebung in einen solchen Staat genauso aus, wie seine Auslieferung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. November 2017 – 2 BvR 1381/17 – juris zur Aufklärung der Gefahr politischer Verfolgung; Beschluss vom 9. Dezember 2017 – 2 BvR 424/17 – juris zur Auslieferung an Rumänien und der Vorlagepflicht wegen drohendem Verstoß gegen Art. 4 GrCharta). Zwischen Konventionsstaaten ist der Maßstab des Urteils vom 21. Januar 2011 (Case of M.S.S. v. Belgium and Greece, Application no. 30696/09) anzuwenden, nach der nicht nur der Zielstaat, sondern auch der überstellende Staat für drohende Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Folge eines bei einer Abschiebung drohenden Verstoßes gegen Art. 3 EMRK ist die hier ausgeworfene Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes aus § 60 Abs. 5 AufenthG. Diese Norm schützt vor einer Abschiebung, um einen Konventionsverstoß zu vermeiden.

Das Abschiebungsverbot würde aber entfallen, wenn eine rechtsverbindliche Erklärung der Russischen Föderation vorliegen würde, in der diese zusichert, den Kläger zu 1 in einer
konkret genannten Untersuchungshaftanstalt für die Dauer des Strafverfahrens zu inhaftieren, die die sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sich ergebenden Mindestvoraussetzungen einhält und – im Falle der Verurteilung – die Strafe in einer ebenfalls diesen Voraussetzungen erfüllenden konkret benannten Haftanstalt vollzogen wird sowie die Gewähr besteht, dass diese Zusicherung auch eingehalten wird. Dazu bedarf es auch der Möglichkeit, die Einhaltung der Zusicherung durch vor Ort Kontrollen zu überprüfen. Eine solche Zusicherung liegt aber nicht vor, sie ist von der Beklagten weder im Verwaltungsverfahren eingeholt, noch danach in das gerichtliche Verfahren eingeführt worden. Es ist auch nicht Aufgabe des erkennenden Gerichts, sich um eine solche Zusicherung zu bemühen. Das Gericht hat die Verwaltungsentscheidung zu überprüfen, nicht aber deren Voraussetzungen erst zu schaffen. [...]