VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 04.01.2021 - 5 A 8988/17 - asyl.net: M29302
https://www.asyl.net/rsdb/m29302
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Genitalverstümmelung:

1. Flüchtlingsanerkennung für zwei kleine Mädchen aus dem Sudan wegen der Gefahr der Genitalverstümmelung. 

2. Feststellung eines Abschiebungsverbots für deren Mutter wegen der katastophalen wirtschaftlichen und humanitären Situation, insbesondere infolge der Überschwemmungen des Nil im Herbst 2020.

3. Die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes aufgrund eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts liegen nicht vor.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Sudan, Genitalverstümmelung, Existenzgrundlage, Flüchtlingsanerkennung, geschlechtsspezifische Verfolgung, Abschiebungsverbot, subsidiärer Schutz, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt,
Normen: AsylG § 3, AufenthG § 60 Abs. 5, AsylG § 4,
Auszüge:

[...]

26 Für die Klägerinnen zu 2. und 3. sind die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG unter dem Gesichtspunkt einer geschlechtsspezifischen Verfolgung erfüllt. Ihnen droht bei einer Abschiebung in den Sudan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Rechtsverletzung in Form der Genitalverstümmelung.

27 Der Einzelrichter geht davon aus, dass eine entsprechende Prozedur bei den Klägerinnen zu 2. und 3. bislang nicht vorgenommen wurde. Zum einen haben das die Klägerin zu 1. und ihr Ehemann so erklärt, zum anderen sind die Klägerinnen zu 2. und 3. in Deutschland geboren. Hier ist die Genitalverstümmelung gem. § 226a StGB strafbar.

28 Weibliche Genitalverstümmelung (englisch: Female Genital Mutilation, kurz FGM) ist als Verfolgungshandlung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 6 AsylG einzustufen (BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 – 1 C 29/17 –, Rn. 38, juris). Denn diese Handlung bezieht sich auf die Geschlechtszugehörigkeit, da sie allein an Frauen und Mädchen vorgenommen wird und werden kann. Sie ist gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG so gravierend, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, unabhängig davon, in welcher Form sie durchgeführt wird. Denn es geht hierbei um die Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit, also um eine gravierende Misshandlung; eine solche Maßnahme stellt generell Verfolgung dar.

29 Demgegenüber kann nicht darauf abgestellt werden, dass eine Genitalverstümmelung den Zweck der Integration der betroffenen Mädchen und Frauen in die jeweilige Gesellschaft als vollwertiges Mitglied verfolge und die Ächtung bzw. der Ausschluss der nicht verstümmelten Frauen mit seinen gegebenenfalls existenzbedrohenden Folgen keine Verfolgung sei. Die Genitalverstümmelung ist gerade darauf gerichtet, die sich weigernden Betroffenen den Traditionen zu unterwerfen und unter Missachtung des Selbstbestimmungsrechts zu verstümmelten Objekten zu machen. Die Beschneidungspraxis verfolgt den Zweck, das gesellschaftliche Leben im Sudan in sozialer Hinsicht zu ordnen und zwar derart, dass das Geschlechterverhältnis in traditioneller Weise erhalten bleiben soll. Im Rahmen dieser traditionellen Rollenverteilung werden Frauen und Mädchen darauf reduziert, bloße Objekte bestimmter Keuschheitsvorstellungen, Ehrbegriffe und einer eventuellen Verheiratung zu sein. Ihre soziale Anerkennung beschränkt sich auf diesen Aspekt. Das ausgrenzende Moment liegt gerade darin, dass mittels der Beschneidung die Situation der sozialen Minderwertigkeit und der angestrebten Unterwerfung der Frauen und Mädchen perpetuiert wird (VG Bremen, Gerichtsbescheid vom 21. Dezember 2005 – 2 K 1283/04.A –, juris; Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14. Februar 2014 – 1 A 1139/13.A –, juris; VG Ansbach, Urteil vom 27. September 2016 – AN 3 K 16.30877 –, Rn. 19, juris).

30 Die drohende Beschneidung der Klägerinnen zu 2. und 3. steht im Einklang mit den einschlägigen Erkenntnisquellen des Gerichts.

31 Das Verwaltungsgericht Oldenburg führt in seinem Urteil vom 5. Oktober 2020 – 1 A 277/17 – aus:

32 "Der Klägerin droht im Sudan mit beachtlicher Wahrscheinlich die zwangsweise Durchführung einer Verstümmelung ihrer Genitalien (im Folgenden: FGM/C). Im Sudan sind – je nach Quelle – knapp 87 oder 88 Prozent der Mädchen und Frauen über 15 Jahren von FGM/C betroffen (vgl. UNICEF, Statistical profile on female genital mutilation – Sudan, Stand: Januar 2019; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Sudan, Stand: Juni 2020; Seite 17; 28 Too Many, Country Profile – FGM in Sudan; Stand: November 2019, Seite 46 ff.; EASO, Female Genital Mutilation/Cutting (FGM/C) & COI, Stand: 25./26.10.2016, Seite 31; Accord, Anfragebeantwortung zum Sudan – Informationen zu Zwangsbeschneidungen, Stand: 18.11.2015). FGM/C ist auch heute noch landesweit eine weitverbreitete Praxis im Sudan, gleichwohl bereits seit 2008 fünf Bundesstaaten Gesetze erlassen, die FGM/C verbieten (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Sudan, Stand: 18.9.2019, Seite 22). Eine wesentliche Abnahme der Genitalverstümmelung wurde dadurch nicht erreicht (VG Hannover, Urteil vom 25.4.2019 – 5 A 5629/17 – V.n.b.). Zwar bemüht sich die Regierung um Aufklärung und arbeitet auf die Beendigung von FGM/C hin, allerdings vollzieht sich ein Wandel in den Köpfen der Familien der Betroffenen sowie deren gesellschaftlichen Umfeld nur langsam, was die weiterhin hohen Betroffenheitsquoten zeigen. Wenngleich die negative Einstellung zu Genitalverstümmelung zunimmt und es Anzeichen dafür gibt, dass die Praxis bei jüngeren Mädchen abnimmt (vgl. BFA, Informationen zu FGM im Sudan bzw. Süd-Darfur, Stand: 28.8.2018, Seite 2), ist auch vor dem Hintergrund der von der Übergangsregierung am 10. Juli 2020 ratifizierten – landesweiten – Gesetzes zur Strafbarkeit von weiblicher Genitalverstümmelung (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes, Stand: 13. Juli 2020, Seite 7) nicht davon auszugehen, dass hierdurch die Praxis der FGM/C bereits vollständig beseitigt wurde. Ein wesentlicher Einflussfaktor in Bezug auf die Anfälligkeit für eine FGM/C ist die Zugehörigkeit zu einer lokalen ethnischen Gruppe. Während einige Gruppen eine historisch überlieferte Tradition der Genitalverstümmelung praktizieren, gibt es eine solche Praxis bei anderen Gruppen nicht (vgl. 28 Too Many, Country Profile – FGM in Sudan; Stand: November 2019, Seite 47)."

33 Dem folgt der Einzelrichter. Weitere Quellen stützen diese Angaben. Der Sudan hat eine der höchsten FGM-Raten der Welt. Für Mädchen werden im Alter zwischen vier und zehn Jahren besteht ein hohes Risiko, genitalverstümmelt zu werden. Knapp 90 Prozent der Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren sind beschnitten, die meisten haben die schwerste Form, die Infibulation, erlebt, d.h. ihnen wurden alle sichtbaren Genitalien entfernt und die Wunde bis auf eine kleine Öffnung zugenäht (https://www.orchidproject.org/about-fgc/where-does-fgc-happen/Sudan/?gclid=EAIaIQobChMI4f_B4NCW7gIVUOJ3Ch1yAQj3EAAYAiAAEgJvxvD_BwE; abgerufen am 12. Januar 2021; file:///C:/Users/J030489/Downloads/Female_Genital_Mutilation_in_Sudan.pdf, abgerufen am 13. Januar 2021). Auch im Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die Republik Sudan vom 28. Juni 2020 heißt es, dass die weibliche Genitalverstümmelung im Sudan eine weitverbreitete Praxis sei (Seite 17). [...]

35 Zwar wurde die Genitalverstümmelung 2020 im Sudan unter Strafe gestellt und damit verboten. Es kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass ein gesetzliches Verbot der Genitalverstümmelung gleich ein Ende setzen wird (https://taz.de/Ende-der-Genitalverstuemmelung/!5682977/; abgerufen am 12. Januar 2021). Bereits im Jahr 1946 gab es Vorschriften, die bestimmte Formen der Genitalverstümmelung unter Strafe stellten. Sie blieben jedoch größtenteils unangewendet. Weitere Versuche, die Genitalverstümmelung unter Strafe zu stellen, scheiterten in den Jahren 2002, 2009 und 2015 [...].

37 Am Ende wird abzuwarten bleiben, ob das 2020 neu geschaffene Gesetz zur Kriminalisierung der Genitalverstümmelung dazu führt, dass es zu einem Rückgang beschnittener Mädchen und Frauen im Sudan kommt. Derzeit ist das – vor allem wegen des geringen Zeitablaufes seit der Schaffung des Gesetzes – nicht absehbar, zumal – wie dargelegt – in der Vergangenheit derartige Maßnahmen nicht zum Erfolg führten. Nicht beschnittene Mädchen riskieren häufig, sozial ausgegrenzt zu werden. Beschnittene Genitalien gelten in den praktizierenden Gemeinschaften als eine notwendige Voraussetzung für Heirat. Eine Untersuchung im Sudan stellte fest, dass – mit steigender wirtschaftlicher Abhängigkeit von Männern – Frauen besonders darauf bedacht seien, ihre Heiratsfähigkeit aufrechtzuerhalten sowie ihre Ehemänner sexuell und reproduktiv zufriedenzustellen, um Scheidung zu verhindern. In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit riskierten Eltern sehr selten, ihre Töchter unbeschnitten zu lassen (https://de.wikipedia.org/wiki/Weibliche_Genitalverst%C3%BCmmelung#Gr%C3%BCnde_der_Beschneidungs-_und_Verst%C3%BCmmelungspraxis; abgerufen am 13. Januar 2021). [...]

39 Ergänzend wird noch auf die folgenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts Oldenburg, Urteil vom 5. Oktober 2020 – 1 A 277/17 –, Bezug genommen:

40 "Dies entspricht dem nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Informationen häufig verwendeten Begründungsmuster für das Fortbestehen der Praxis, wonach eine "reinigende" Wirkung eintreten solle und Frauen, an denen kein FGM praktiziert wurde, schwer verheiratet werden (Terre des Femmes, Sudan, Stand: Dezember 2019, www.frauenrechte.de/un-sere-arbeit/themen/weibliche-genitalverstuemmelung/unserengagement/aktivitae-ten/genitalverstuemmelung-in-afrika/fgm-in-afrika/1431-sudan). Zudem haben im Sudan die Familien großen Einfluss auf die Entscheidung, ob FGM/C durchgeführt wird, insbesondere auch die Großmütter und ältere Tanten (EASO, Female Genital Mutilation/Cutting (FGM/C) & COI, Stand: 25./26.10.2016, Seite 43).

41 Es ist auch nicht ersichtlich, dass der sudanesische Staat Schutz gewähren könnte. Die hohe gesellschaftliche Akzeptanz und weiterhin vorliegende weite Verbreitung der Praxis von FGM/C, von der – je nach Quelle – ca. 87-88 % der Frauen und Mädchen betroffen sind, lassen vermuten, dass bislang kein effektiver staatlicher Schutz gegen die Verfolgung besteht, § 3c Nr. 3 AsylG. Wie sich die jüngst vorgenommene Gesetzesänderung zur Strafbarkeit der Genitalverstümmelung in der Praxis auswirkt, ist gegenwärtig noch nicht absehbar. Ferner ist es generell nicht akzeptiert, "Schande" über die Familie in Form eines Rechtsstreits oder durch die Flucht in eine Schutzeinrichtung wie ein Frauenhaus zu bringen (EASO, Female Genital Mutilation/Cutting (FGM/C) & COI, Stand: 25./26.10.2016, Seite 43)."

42 Die Tatsache, dass die Eltern der Klägerinnen zu 2. und 3. eine Genitalverstümmelung nicht wünschen, kann nicht zu der Annahme führen, es drohe im Falle der Rückkehr keine entsprechende Gefahr. Denn zum einen ist zu berücksichtigen, dass die Klägerinnen zu 2. und 3. aufgrund ihres Alters nicht in der Lage sind, sich selbst ausreichend dagegen zu schützen. Zum anderen besteht auch die Gefahr der Verstümmelung, wenn die Klägerinnen zu 2. und 3. in ein heiratsfähiges Alter kommen und sie von anderer Seite – zum Beispiel von ihren künftigen Ehemännern, deren Familien oder durch gesellschaftlichen Druck – zu dieser Maßnahme gedrängt werden. Zudem ist keine inländische Fluchtalternative erkennbar. Angesichts der vorliegenden Auskünfte droht die Gefahr im Sudan landesweit. Die Verstümmelung weiblicher Genitalien ist in allen Landesteilen, Ethnien, Religionen und Bevölkerungsteilen verbreitet. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerinnen zu 2. und 3. nach der Geburt eines eigenen Kindes selbst über ihre Beschneidung entscheiden könnten bzw. hierzu überhaupt befragt würden. Denn die Vornahme der Beschneidung ist im Sudan kein Ritual, das nur innerhalb der Familie von Bedeutung ist, geschweige denn der Entscheidung der Betroffenen unterläge. Vielmehr dient sie dazu, den Frauen und Mädchen ihre gesellschaftliche Rolle zuzuweisen. Vor diesem Hintergrund kann im Falle einer Rückkehr in den Sudan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Genitalverstümmelung nicht ausgeschlossen werden. [...]

59 4. Soweit die Beklagte in ihrem Bescheid vom 27. September 2017 festgestellt hat, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen, ist dieser rechtswidrig und die Klägerin zu 1. dadurch in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Denn in Bezug auf die Republik Sudan besteht für die Klägerin zu 1. ein Anspruch auf Feststellung des Bestehens eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG. [...]

64 Nach diesen Grundsätzen spricht wegen der aktuellen schweren Überflutungen im Sudan eine ausreichend beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger bei einer Rückkehr aufgrund der schlechten humanitären Verhältnisse in Sudan einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre.

65 Nach dem OCHA-Lagebericht vom 10. September 2020 (Update vom 24. September 2020) handelt es sich bei der Flut um die schwerste im Sudan innerhalb der letzten 30 Jahre. Die Häuser von etwa 830.000 Menschen seien zerstört oder beschädigt worden; über 120 Personen seien gestorben. Besonders betroffen seien die Regionen Nord Darfur, Khartoum, West Darfur und Sennar. Nicht nur Häuser und die Infrastruktur seien zerstört worden, sondern ebenfalls Farmen. Im Staat Khartoum seien in Um Durman 67 Prozent der Farmen überflutet worden, in Karari etwa 60 Prozent und etwa 30 Prozent in Nord Khartoum. Farmen in anderen Staaten habe es ähnlich schlimm getroffen. Etwa 10 Millionen Personen bräuchten nun Unterstützung. [....]

70 Unter diesen Umständen ist es der Klägerin zu 1. derzeit nicht zumutbar, in den Sudan zurückzukehren. Es kann nicht sicher davon ausgegangen werden, dass sie sich – auch durch Arbeit – während der Überschwemmungen eine Lebensgrundlage schaffen und sich mit den notwendigsten Grundbedürfnissen ausstatten kann. [...]