VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 03.12.2020 - 31 L 266/20 A - asyl.net: M29328
https://www.asyl.net/rsdb/M29328
Leitsatz:

Unterbrechung der Dublin-Überstellungsfrist durch Hängebeschluss:

"Die Überstellungsfrist von sechs Monaten (Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO) wird jedenfalls dann durch einen vor ihrem Ablauf verfügten sog. "Hängebeschluss" unterbrochen, wenn dieser aus sachlich vertretbaren Erwägungen erfolgt ist (wie BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 – 1 C 16/18 – juris Rn. 18 ff. zur behördlichen Aussetzung der Vollziehung) und das Bundesamt die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs dem zuständigen Mitgliedstaat mitgeteilt hat (Änderung der bisherigen Kammerrechtsprechung: Beschluss der Kammer vom 20. September 2018 – VG 31 L 744.18 A -, juris Rn. 11)."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Zwischenverfügung, Überstellungsfrist, Unterbrechung der Frist, Unterbrechung, Hängebeschluss,
Normen: VwGO § 80 Abs. 7 S. 2, AsylG § 83a S. 2, GG Art. 19 Abs. 4, VO 604/2013 Art. 27 Abs. 3, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

5 Die Abschiebungsanordnung (§ 34a AsylG) nach Belgien im Bescheid vom 6. März 2020 ist nicht aufgrund geänderter Umstände (hier: wegen Ablaufs der Überstellungsfrist und Zuständigkeitsübergangs auf Deutschland) rechtswidrig geworden.

6 Dies gilt unabhängig von der Frage, ob die am 26. März 2020 erfolgte und mit Schreiben vom 24. Juni 2020 widerrufene Aussetzung der Vollziehung Auswirkungen auf die Überstellungsfrist im Sinne einer Unterbrechung und eines Neuanlaufens hatte. Denn selbst wenn man diese Frage mit den von der Antragstellerin in Bezug genommenen Entscheidungen des VG Frankfurt (Oder) (Gerichtsbescheid vom 20. November 2020 – VG 10 K 123/20 –) und des OVG Lüneburg (Beschluss vom 27. Oktober 2020 – 10 LA 217/20 –) zu ihren Gunsten dahingehend beantworten würde, dass jedenfalls eine wegen der Coronakrise erfolgte Aussetzungsentscheidung des Bundesamtes keine Auswirkungen auf den Lauf der Überstellungsfrist hätte, gilt hier Folgendes:

7 Noch vor Ablauf der aufgrund des Beschlusses der Kammer vom 7. April 2020 – VG 31 L 131/20 A – im April 2020 neu angelaufenen sechsmonatigen Überstellungsfrist ist diese ihrerseits durch den Hängebeschluss der Kammer vom 16. Juli 2020 im ersten Abänderungsantragsverfahren – VG 31 L 211/20 A – und der entsprechenden Information an Belgien darüber unterbrochen worden (Änderung der Kammerrechtsprechung; dazu sogleich). Die sechsmonatige Überstellungsfrist ist sodann aufgrund der Zustellung des Beschlusses der Kammer vom 24. August 2020 – VG 31 L 211/20 A – erneut im August 2020 angelaufen und daher, unabhängig von der grundsätzlich erneut fristunterbrechenden Wirkung des Hängebeschlusses der Kammer vom 20. Oktober 2020 im hiesigen Verfahren, bis heute noch nicht abgelaufen.

8 Die Überstellungsfrist von sechs Monaten (Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO) wird durch einen vor ihrem Ablauf verfügten sog. "Hängebeschluss" jedenfalls dann unterbrochen, wenn dieser aus sachlich vertretbaren Erwägungen erfolgt ist (wie BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 – 1 C 16/18 – juris Rn 18 ff. zur behördlichen Aussetzung der Vollziehung) und das Bundesamt die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs dem zuständigen Mitgliedstaat mitgeteilt hat (Änderung der bisherigen Kammerrechtsprechung: Beschluss der Kammer vom 20. September 2018 – VG 31 L 744.18 A –, juris Rn. 11).

9 Eine Zwischenverfügung, mit der das Gericht eine vorläufige Entscheidung zur Überbrückung des Zeitraums zwischen dem Eingang des Eilantrags und der endgültigen Entscheidung über den Eilantrag trifft, um den effektiven Rechtsschutz zu sichern (sog. "Hängebeschluss"), ist generell geeignet, die in Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO vorgesehene Überstellungsfrist zu unterbrechen.

10 Durch einen Hängebeschluss erhält der anhängige Rechtsbehelf nämlich temporär aufschiebende Wirkung im Sinne des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 i.V.m. Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO. Bei dem Tatbestandsmerkmal der "aufschiebenden Wirkung" in Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO handelt es sich um einen unionsrechtlichen Begriff, der alle Fälle erfasst, in denen eine Überstellungsentscheidung im Rahmen der den Mitgliedstaaten in Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO eingeräumten Möglichkeiten zur Ausgestaltung eines wirksamen Rechtsbehelfs nicht vollzogen werden darf (VG Berlin, Beschluss vom 18. März 2020 – VG 28 L 194.19 A –, juris Rn. 18). Auch in Fällen, in denen eine Überstellung kraft Gesetzes oder kraft wirksamer Einzelfallentscheidung lediglich zeitweise ausgeschlossen war, müssen die Mitgliedstaaten über eine zusammenhängende Frist von sechs Monaten verfügen, die sie in vollem Umfang zur Regelung der technischen Probleme für die Bewerkstelligung der Überstellung sollen nutzen dürfen (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019, a.a.O. Rn. 17 m.w.N.). Verzögert sich die Überstellung wegen eines Rechtsbehelfsverfahrens mit aufschiebender Wirkung, ist der zuständige Mitgliedstaat hierüber unverzüglich zu unterrichten (Art. 9 Abs. 1 der Verordnung <EG> Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung <EG> Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist <ABl. L 222 S. 3>).

11 Die Wirkung, die Überstellungsfrist neuerlich zu unterbrechen, entfällt bei dem Hängebeschluss der Kammer vom 16. Juli 2020 nicht deswegen, weil dieser rechtswidrig wäre. Vielmehr hält dieser sich in den Grenzen, die durch das nationale Recht und Unionsrecht vorgegeben sind.

12 Eine Zwischenverfügung darf jedenfalls dann ergehen, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen; dann haben die Belange eines Antragstellers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes offenkundig Vorrang vor dem Beschleunigungsgedanken. Die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes erlaubt eine gerichtliche Zwischenverfügung aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht rechtlich zwingend sein müssen, auch unterhalb dieser Schwelle, wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind (so zur unionsrechtlichen Zulässigkeit einer behördlichen Aussetzungsentscheidung BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019, a.a.O. Rn. 27). Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Antragsteller ihrem Erlass nicht ausdrücklich widerspricht.

13 Der Hängebeschluss der Kammer vom 16. Juli 2020 war durch den ersten Abänderungsantrag des Antragstellers vom 15. Juli 2020, dem ein aktuelles fachärztliches Attest beigefügt war, veranlasst und wegen der Notwendigkeit der Prüfung des Bestehens eines Abschiebungsverbotes oder eines inländischen Vollstreckungshindernisses wegen der geltend gemachten Posttraumatischen Belastungsstörung sachlich gerechtfertigt. [...]